Bettler 01 - Bettler in Spanien
Wenn es von außen zu einer Durchbrechung des elektronischen Zaunes kam, wurde achthundert Meter dahinter ein Kraftfeld aktiviert, das jedem Menschen, der sich zu Fuß fortbewegte, einen Elektroschock versetzte – »aber nur an der Außenseite des Kraftfeldes! Wir wollen ja nicht, daß unseren Kindern etwas passiert«, sagte Jennifer. Ein unbemanntes Eindringen von Fahrzeugen oder Robotern wurde von einem Ortungssystem erkannt, das jeglichen Metallgegenstand über einer gewissen Masse ermittelte, der sich in Sanctuary von der Stelle bewegte. Jedes in Bewegung befindliche Metallobjekt, das nicht eine von Donald Pospula – einem Schlaflosen, der bereits Patente für etliche bedeutende elektronische Elemente besaß – speziell dafür entwickelte Signaleinrichtung mitführte, galt als verdächtig.
»Selbstverständlich wären wir gegen einen Angriff aus der Luft oder durch einen Stoßtrupp der Armee machtlos«, erklärte Jennifer. »Aber damit ist nicht zu rechnen. Wir rechnen nur mit Feinden, deren Feindseligkeit aus ihrem Eigeninteresse und ihrer inneren Bereitschaft zum Haß entspringt.«
Leisha legte einen Finger auf die Computerausdrucke der Sicherheitspläne. Sie verursachten ihr Unbehagen. »Wenn wir es nicht schaffen, uns in unsere Umgebung zu integrieren… Ich meine, ein freier Austausch von Waren und Leistungen sollte Bewegungsfreiheit voraussetzen.«
»Nur wenn Bewegungsfreiheit einen freien Geist voraussetzt«, fügte Jennifer rasch hinzu, und ihr Tonfall ließ Leisha aufblicken. »Ich muß dir etwas sagen, Leisha.«
»Ja?«
»Tony ist nicht hier.«
»Und wo ist er?«
»Im Bezirksgefängnis in Conewango. Es stimmt schon, wir haben Probleme wegen der Baugenehmigungen für Sanctuary – Baugenehmigungen! Für diesen abgelegenen Flecken Land! Aber da geht es jetzt um etwas anderes. Es hat sich erst heute früh ereignet. Tony wurde wegen der Entführung von Timmy DeMarzo festgenommen.«
Der Raum schien ein wenig zu schwanken. »FBI?« fragte Leisha.
»Ja.«
»Wie… wie haben sie es herausgefunden?«
»Irgendein Agent hat den Fall geknackt. Man hat uns nicht verraten, wie. Tony braucht einen Rechtsanwalt, Leisha. Bill Thaine hätte schon zugesagt, aber Tony will dich haben.«
»Jennifer – ich habe noch nicht mal die Zulassung! Die Prüfungen finden erst im Juli statt!«
»Er sagt, er will warten. In der Zwischenzeit wird Bill als sein Rechtsbeistand fungieren. Wirst du die Prüfungen schaffen?«
»Klar. Aber ich habe mir schon einen Job bei Morehouse, Kennedy & Anderson in New York organisiert…« Sie verstummte. Richard starrte sie mit unbewegter Miene an, Jennifer mit unergründlicher. Etwas gedämpft fragte Leisha: »Wird er sich für unschuldig erklären?«
»Für schuldig«, antwortete Jennifer. »Unter… Wie heißt das doch mit dem Fachausdruck? Unter mildernden Umständen.«
Leisha nickte. Sie hatte befürchtet, Tony würde auf einem »Nicht schuldig« bestehen: Lügen über Lügen, Ausflüchte, Manöver und Tricks… Rasch überflog sie in Gedanken die Voraussetzungen für mildernde Umstände, Präzedenzfälle – man könnte Clements gegen Voy heranziehen…
»Bill ist jetzt bei ihm im Gefängnis«, sagte Jennifer. »Wirst du mit mir hinfahren?« Sie machte die Frage zu einer Herausforderung.
»Ja, sicher«, sagte Leisha.
Doch in Conewango, der Bezirkshauptstadt von Cattaraugus County, erlaubte man ihnen nicht, mit Tony zu sprechen. William Thaine als sein Anwalt hatte selbstverständlich freien Zugang zu seinem Klienten; Leisha hingegen, die offiziell noch nicht mal Anwältin war, durfte nirgendwohin. Das wurde ihnen von einem Mann aus dem Büro des Staatsanwalts mitgeteilt, dessen Miene unbewegt blieb, solange er mit ihnen sprach, der aber dicht hinter ihnen auf den Boden spuckte, als sie gingen – die Spucke, die auf seinem Fußboden zurückblieb, nahm er dabei offenbar in Kauf.
Richard und Leisha fuhren mit ihrem Leihwagen zurück zum Flughafen, um nach Boston zurückzukehren. Unterwegs erklärte Richard, er hätte sich soeben entschieden, nach Sanctuary zu übersiedeln, und zwar sofort, um noch bei der Planung und Fertigstellung mitzuhelfen.
Leisha blieb die meiste Zeit in ihrer Wohnung, lernte wie wild für die Zulassungsprüfung oder kümmerte sich über Groupnet um die Schlaflosen-Kinder. Sie hatte seit Bruce noch keinen neuen Leibwächter eingestellt, und so ging sie nur widerstrebend aus dem Haus; dieses Widerstreben machte sie wiederum wütend auf sich selbst.
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