Bettler 03 - Bettlers Ritt
ein Neuropharm. Sie hatte ein Neuropharm eingeatmet und war zu einem anderen Menschen geworden. Zu einem Menschen ohne Arme und Beine, zu einem Menschen, der dachte, die Arme und Beine anderer Menschen würden auf dem Boden herumliegen, zu einem Menschen, den das überhaupt nicht aufgeregt, sondern der seelenruhig überlegt hatte, wie er damit fertigwerden sollte. Nicht Theresa. Jemand ganz anderer.
Sie blickte auf zu Jackson, und zum erstenmal in ihrem Leben wollte sie ihn nicht in ihrer Nähe haben. »Du… du hast mich zu etwas ganz anderem gemacht!«
»Nein, nicht ich, das war das Haussystem…«
»Aber du willst doch immer, daß ich Neuropharms nehme. Damit ich zu jemand anderem werde.«
»Theresa, das kannst du doch nicht vergleichen…«, begann er, aber sie unterbrach ihn.
»Das ist nicht die Antwort. Ich kenne sie auch nicht, aber das ist sie jedenfalls nicht.« Sie ließ Jacksons Hand los und stand mühsam auf.
Cazie sagte: »Tess, Kleines, du bist wirklich nicht fair zu Jack. Er will nur einfach…«
»Ich weiß, was er nur einfach will«, sagte Theresa und ließ die beiden dort stehen. Jackson sah unglücklich aus und Cazie mitleidig. Sie stolperte zu ihrem Zimmer; ihr Gang war unsicher, in den Armen und Beinen kribbelte es, und einmal dachte sie schon, die Knie würden unter ihr nachgeben.
Aber wenigstens waren es ihre eigenen.
Das Gebäude stand auf einem Berghang hoch oben in den Adirondacks. Theresa landete den Wagen, der selbstverständlich auf Automatik flog, auf einem künstlich abgeflachten Stück nanobeschichtetem Untergrund, bei dem es sich, wie sie annahm, um einen Parkplatz handelte, obwohl keine anderen Wagen zu sehen waren. Dann stand sie lange Zeit in der Kälte und starrte nur hinauf zum Kloster der Schwestern des Barmherzigen Himmels.
Das Nonnenkloster – nicht aus SchaumStein, sondern aus echtem Stein gebaut – schmiegte sich unauffällig in den Berg: graues Felsgestein, spärlich bewachsen mit welken Efeuranken, deren mattes Braungrün sich in dem kargen Winterbewuchs in den Spalten des steilen Berghangs fortsetzte. Es war das erste Macher-Gebäude ohne schwach schimmernde Kuppel eines Y-Schildes, das Theresa je gesehen hatte – sowohl in Wirklichkeit als auch in allen Sendungen, an die sie sich erinnern konnte. Nur Schnee in sauberen Wächten umgab das Kloster. Leichter Wind wirbelte die pulvrigen Stäubchen um Theresas Beine, und erschauernd machte sie sich auf den Weg zum Tor.
Eine Frau mittleren Alters öffnete – kein Sicherheitssystem und auch kein Rob. Eine Frau – eine Schwester? –, gekleidet in ein glattes graues Gewand aus einem Stoff, der aussah wie Baumwolle. Baumwolle. Ein konsumierbares Gewebe. Bei seinem Anblick vergaß Theresa beinahe wie üblich vor Fremden zurückzuzucken. Sie verschränkte die Finger fest ineinander und zwang sich, keinen Schritt zurückzuweichen.
»Ich bin… Theresa Aranow. Ich habe angerufen…«
»Kommen Sie herein, Miss Aranow. Ich bin Schwester Anne.«
Sie lächelte, aber Theresa schaffte es nicht zurückzulächeln. Ihre Gesichtszüge fühlten sich an wie erstarrt. »Sie haben mit mir übers ComLink gesprochen. Kommen Sie, wir wollen uns ein Plätzchen suchen, wo wir ungestört plaudern können.«
Sie führte Theresa durch ein dämmriges Foyer mit Steinwänden und öffnete eine schwere Holztür. Ein voller Wohlklang drang ihnen entgegen.
»Oh! Was… was ist das?«
»Die Schwestern. Sie singen die Vesper.«
Fasziniert blieb Theresa stehen. Sie hatte noch nie zuvor einen Gesang wie diesen gehört. Aus keinem Klangsystem, niemals! Es war eine strahlende, herrliche Woge aus Tönen, ohne Instrumente, hervorgerufen nur durch menschliche Stimmen, von denen jeder einzelnen durch die entsprechenden GenMods die Musikalität mitgegeben worden war und die jetzt in glühender Inbrunst erstrahlten. Theresa konnte die einzelnen Worte nicht ausmachen, aber Worte waren ohnehin nebensächlich. Es war die Leidenschaft, auf die es ankam. Die Leidenschaft für etwas Ungesehenes, aber… aber was? Für etwas Gefühltes. Die Leidenschaft…
»Sie sagten am ComLink«, bemerkte Schwester Anne leise, »daß Sie keine katholische Erziehung hatten. Haben Sie noch nie den Vespergesang gehört?«
»Noch nie!«
»Nun, das haben die meisten Katholiken auch nicht. Oder das, was man jetzt als Katholiken bezeichnet. Kommen Sie hier herein. Hier können wir sprechen.«
Theresa folgte ihr in einen kleinen weißgetünchten Raum, in dem nur ein
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