Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
einige Male, schaut dann weg und erzählt weiter.
»Nicklas verschwand am Freitagabend von einem Fest bei einem Freund im Värtaväg. Meine Mutter konnte nie schlafen, wenn wir abends unterwegs waren, und wartete darauf, dass Nicklas nach Hause kam. Um drei Uhr morgens hat sie Jörgen angerufen, bei dem das Fest war. Er sagte, dass Nicklas schon gegen neun gegangen sei, noch bevor das Fest richtig angefangen hatte, und nicht zurückgekehrt sei. Meine Mutter wollte sofort die Polizei anrufen. Ich fand das peinlich und nervig. Ich war ganz sicher, dass Nicklas am nächsten Tag auftauchen würde, verkatert und verlegen. Und mein Vater sah das auch so … Aber Nicklas kam ja nie wieder nach Hause.« Gabriella schüttelt den Kopf, als könne sie das alles noch immer nicht ganz glauben.
»Was glauben Sie, was passiert ist?«
»Ich weiß, dass Nicklas tot ist, und ich glaube, dass jemand ihn umgebracht hat. Aber ich weiß nicht, wie oder wer es war. Ich glaube, das zu wissen, würde es mir ein wenig leichter machen, damit zu leben. Dass ein verurteilter Täter ein Gefühl von Sinn und Gerechtigkeit erzeugen könnte. Wir Menschen suchen doch immer nach einem Sinn, wollen verstehen. Und ich glaube, die Ungewissheit lässt ein Vakuum entstehen, man kommt mit dem Leben einfach nicht weiter. Ein Teil von uns steckt immer in der Vergangenheit fest. Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben, ohne zu wissen, was mit Nicklas passiert war. Das war am Ende seine größte Sorge. Nicht, dass er sterben musste, sondern zu sterben, ohne es zu wissen. Meine Mutter wird immer hoffen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie schreibt auf Nicklas’ Website im Internet, erkundigt sich bei der Polizei. Sie kämpft noch immer.«
Jetzt weint Gabriella. Sie weint so, wie sie redet, kontrolliert und beherrscht. Tränen, die langsam über ihr winterbleiches Gesicht laufen. Ihre Worte treffen mich im Magen. Ihr Schmerz ähnelt meinem so sehr. Die Ungewissheit, was Stefans Tod angeht. Der verzweifelte Versuch, die Wahrheit zu erfahren. Zu verstehen warum.
Immer dieses Warum.
Ich wünschte, Markus und Aina hätten Gabriella hören können. Und sie könnte ihnen klarmachen, warum man Trauer und Schmerz nicht in ein ordentliches Paket packen und nie wieder öffnen kann. Dass das fehlende Wissen uns in den Wahnsinn treiben kann.
»Und jetzt kommen Sie und erzählen das alles.« Sie steht auf und geht zu ihrem Schreibtisch, nimmt eine Packung Papiertaschentücher aus einer Schublade, putzt sich die Nase und wischt sich dann die Augen. Danach kehrt sie zu ihrem Sessel zurück, setzt sich und sieht mich aus geröteten Augen an.
»Sie müssen damit zur Polizei gehen, Siri. Ich begreife nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«
Sie klingt jetzt schroff und schaut auf die Uhr, und mir ist klar, dass sie das Gespräch beenden will. Ich stehe auf, merke, dass mir schwindelig und schlecht ist.
»Ich gehe ja schon«, sage ich, sammele meine Papiere zusammen. Jahrbuch, Zeitlinie, Stefans schwarzes Büchlein.
Dann fällt etwas aus Stefans Kalender: das kleine Passfoto des jungen dunklen Mädchens. Es landet vor Gabriella. Sie erstarrt. Sieht mich mit einem Blick an, der Misstrauen verrät.
»Woher haben Sie das Bild?«
Verständnislos schüttele ich den Kopf.
»Das lag bei Stefans Sachen.«
»Das ist Nicklas’ Freundin«, flüstert sie.
Ich sitze in meinem Auto auf dem großen Parkplatz beim Bahnhof und versuche, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Was Gabriella erzählt hat, klingt unbegreiflich. Warum hatte Stefan ein Bild von Nicklas’ Freundin? Und die Beschreibung von Stefan kommt mir so fremd vor. Ich versuche, ihn mir als Drogen dealenden Vergewaltiger vorzustellen, aber das ist unmöglich. Mein Stefan war fürsorglich und liebevoll. Mein Stefan würde keinem anderen Menschen wehtun. Und dann, Anders Holmberg. Ein aufgeblasener, arroganter Bengel, der Nietzsche genannt wird.
Plötzlich begreife ich: Nietzsche. Nisse. Nietzsche.
Verzeih mir, Nietzsche.
Ich friere plötzlich, obwohl es im Auto warm und feucht ist.
Anders Holmbergs Mörder wusste sehr genau, wer er war.
Stockholm 1988
Der Nachmittag war bewölkt und drückend schwül. Aus der Ferne war Donner zu hören. Im Sveaväg war ein glänzend roter Porsche 911 in einen Volvo 740 gefahren, und die beiden Fahrer waren jetzt in einen lauten Streit darüber verstrickt, bei wem die Schuld nun wirklich liege.
Menschen, die entlang der von Bäumen gesäumten Straße spazierten, drehten sich um
Weitere Kostenlose Bücher