Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
einladenden Lichter der Fenster malten den Schnee um die Häuser in allerlei Goldtönen an. Über ihr war der Himmel schwarz. Tausende Sterne schauten schweigend auf sie herab. Irgendwo in der Ferne ahnte sie den Verkehrslärm der Autobahn als schwache, aber unverkennbare Geräuschkulisse.
Sie stieg von den Steinen am Ufer auf das Eis herab, trat auf starrgefrorenes Schilf aus dem Vorjahr, das wütend zischte. Es war schon lange kalt, das Eis war dick, und es war absolut nicht gefährlich hinüberzugehen. Der Weg war ausgetreten, der Schnee daneben lag einen halben Meter hoch.
Das Wohngebiet, in dem Peter wohnte, lag auf einer Landzunge, die aus dem Wald auf der linken Seite hervorragte. Es sah aus der Entfernung trügerisch idyllisch aus. Erst, wenn man näher kam, ahnte man die charakteristischen Silhouetten des Millionenprogramms, konnte die heruntergekommenen Betonkörper der Häuser erkennen. Vor den Hochhäusern zogen sich am Ufer Reihenhäuser hin, dann kam das Meer.
Weit draußen in der Fahrrinne konnte sie eine Fähre näher kommen sehen. Sie zog die Kapuze hoch, spürte, wie die Wärme ihren Kopf umschloss, und bemerkte plötzlich ihren eigenen Atem. Schaute im Weitergehen zu den Häusern hinüber, die dabei vor ihr wuchsen.
Bald am Ziel.
Morgen hatte sie dann die Spanischprüfung. Sie würde am Abend noch ein wenig büffeln müssen, aber das machte ihr nichts aus. Sie ging gern zur Schule, begriff das ewige Gejammer der anderen nicht. Wenn es so verdammt öde war, warum suchten die sich keinen Job? Es zwang sie ja wohl niemand auf die Schulbank.
Noch zwanzig Meter.
Plötzlich löste sich von den Bäumen am Ufer ein Schatten. Ein Mensch. Einwandfrei ein Mensch. Sie schaute aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit, hoffte, einen Hund zu entdecken, sah aber nur die Silhouette eines Mannes im Licht der Betonhäuser. Er stand ganz still unter einer Straßenlaterne – als wolle er von ihr gesehen werden – und ließ die Arme nach unten hängen. Er trug die Kapuze, die sein Gesicht verbarg.
Er war es.
Sie kämpfte sich durch den kniehohen Schnee und suchte verzweifelt in ihrer Tasche nach dem Telefon. Ein rascher Blick zurück zeigte, dass der Mann aufholte. Vor ihr nur Schnee und Eis. Und rechts das Gewerbegebiet. Dorthin wollte sie absolut nicht, dort war um diese Tageszeit kein Mensch.
Ihre Beine brannten vor Anstrengung, als sie versuchte, schneller zu laufen. Irgendwo auf ihrer linken Seite näherte sich die Fähre durch die Fahrrinne im Eis. Dort waren Menschen an Bord. Wenn sie nur ein wenig weiter aufs Eis hinausgelangen könnte, könnte sie vielleicht die Aufmerksamkeit dieser Menschen erregen und ihn verjagen.
Sie hielt ihr Handy in der Hand. Der Akku war fast leer. Mit der linken Hand tippte sie die Nummer ein, während sie weiter durch die Dunkelheit lief, noch einige Schritte machte, fast ausgerutscht wäre, aber das Gleichgewicht zurückgewinnen konnte. Jetzt hörte sie hinter sich seine Schritte, während das Geräusch der Fähre immer lauter wurde.
Sie rief Peter an. Versuchte, ihr Tempo beizubehalten und zugleich auf die Fahrrinne zuzulaufen. Wie weit mochte das sein, fünfzig Meter vielleicht? Es klingelte dreimal. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung, ihre Lunge schien zu bersten. Antworte endlich, du Dussel, dachte sie, du sitzt doch wohl nicht wieder vor der Glotze und stopfst dich mit Chips voll?
In diesem Moment hatte der Mann sie eingeholt. Zuerst war sie nur überrascht, sie war sicher gewesen, dass er noch immer weit hinter ihr war. Sie hörte ihn nicht durch den Lärm der Fähre, die sich wie ein riesiger leuchtender Weihnachtsbaum durch die Dunkelheit näherte.
Seine Hand packte ihre Schulter, zog sie zu sich. Der Boden unter ihren Füßen verschwand, er hob sie hoch, nein, schleifte sie zu sich hin. Sie schrie oder versuchte zu schreien. Es kamen keine Wörter, nur ein langes Gebrüll. Er griff nach ihrem Kopf, erwischte die Kapuze. Die wurde dabei von der Jacke losgerissen.
Ohne zu begreifen, woher sie die Stärke nahm, drehte sie sich zu ihm um und rammte ihm ihr Knie in den Schritt. Er sank in sich zusammen, stieß ein ersticktes Stöhnen aus und wurde dann still. Sie holte in der kalten Luft Atem. Das Telefon lag neben dem Mann, das Display leuchtete im Schnee. Sie blieb für eine Sekunde stehen. Sollte sie ihr Telefon holen oder weiterlaufen? Das Telefon lag gefährlich dicht bei ihm, und die Fähre war jetzt in der Nähe. Sie fasste ihren Entschluss,
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