Beweislast
an. »Am besten wäre es, wenn wir bis Dienstag neue Fakten auf den Tisch legen könnten.«
»Bis Dienstag?«, hakte Linkohr ungläubig nach.
»Ja«, erklärte der Chefermittler, »tags drauf will die Schwurgerichtskammer das Urteil sprechen.«
Betretenes Schweigen. Als Linkohr etwas einwenden wollte, zerrissen die elektronischen Töne von Häberles Telefon die Stille. Er nahm ab, meldete sich und wurde nachdenklich. »Okay, wir kommen raus«, sagte er und legte sofort wieder auf. »Die Kollegen der Bereitschaftspolizei sind auf etwas gestoßen, das wir uns mal ansehen sollten.« Wie so oft verstand es Häberle trefflich, die Kollegen auf die Folter zu spannen.
Hornung hatte seine Personalien genannt. Andreas mit Vornamen, Teamleiter beim Arbeitsamt, 34 Jahre alt, verheiratet, wohnhaft in Plochingen. Mit den Angeklagten weder verwandt noch verschwägert, wegen Falschaussage und Meineids nicht vorbestraft. Alles Formalien, nichts weiter. Und doch so wichtig für den Richter, dachte Ketschmar. Wichtiger als alles andere. Die Protokollführerin an der Oberkante des Richtertischs hielt dies mit der viel zu lauten Tastatur ihres Computers fest und lehnte sich wieder zurück. Hornung nahm selbstbewusst an dem Zeugentischchen Platz, das direkt vor den Robenträgern stand.
Muckenhans stellte beim Blick in die Akten fest, dass Hornung der Vorgesetzte des Ermordeten war. »Vielleicht können Sie etwas über Herrn Grauer berichten.«
Hornung schlug lässig die Beine übereinander. »Herr Grauer war äußerst zuverlässig, kann man sagen. Ich hab nachgeschaut – er war seit seiner Ausbildung beim Arbeitsamt und galt bei den Kollegen als umgänglich und fachlich kompetent. Wir sind über seinen Tod noch heute sehr betroffen.«
»Und Herr Grauer war auch für Herrn Ketschmar zuständig«, stellte Muckenhans fest.
»Genau. Herr Grauer hat die Alg 1-Bezieher betreut und sie auf den Übergang in Alg 2 vorbereitet.«
»Alg 1 heißt Arbeitslosengeld eins, also das frühere Arbeitslosengeld – und Alg 2 ist die frühere Sozialhilfe; jetzt sagt man wohl ›Hartz IV‹ dazu«, hakte der Vorsitzende nach und erntete ein Kopfnicken. Hornung erklärte: »Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit greift Alg 2, das heißt, wir müssen die Vermögensverhältnisse dahingehend prüfen, ob es sich um eine Alg 2-bezugsberechtigte Person handelt.«
»Wie oft hat sich Herr Ketschmar bei Herrn Grauer gemeldet?«
»Alle zwei bis drei Wochen, aber so sehr wir uns bemüht haben, Herrn Ketschmar zu vermitteln, es war aussichtslos. Er ist 55 und somit in einem Alter, mit dem man im Arbeitsmarkt nicht mehr zu vermitteln ist.«
Muckenhans konnte sich eines süffisanten Kommentars nicht enthalten: »Aber die Politik sagt uns, wir sollen bis 67 arbeiten.«
»Das ist die Folge der Alterspyramide, die …« Muckenhans schnitt ihm sofort das Wort ab: »Wie war denn das Auftreten Ketschmars bei Herrn Grauer? Haben Sie darüber etwas erfahren?«
»Aus den Akten ist nichts herauszulesen und Herr Grauer hat mir auch nie darüber berichtet. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn mir jeder Sachbearbeiter über seine Erfahrungen mit den Alg 2-Beziehern berichten würde, bliebe keine Zeit mehr fürs Kerngeschäft. Dass wir es nicht immer mit der feinsten Kundschaft zu tun haben …«
Wieder stoppte ihn Muckenhans: »Dass die beiden gestritten haben, dazu können Sie uns nichts sagen?«
»Ich sagte doch schon, wir unterhalten uns nicht über Einzelfälle – allenfalls, wenns erhebliche Probleme gibt.«
»Und die hats nicht gegeben?«
»Ich hab jedenfalls nicht davon erfahren.«
»Mal angenommen«, machte Muckenhans weiter und überlegte, »… mal angenommen, Herr Ketschmar und Herr Grauer hätten sich gestritten, vielleicht sogar lautstark. Hätten Sie das hören können?«
»Nein, wohl kaum. Im Übrigen kommt es durchaus vor, dass es bei uns mal laut zugeht, vor allem, wenn ein Alg 1 -Bezieher vor dem Übergang in Alg 2 steht und die Vermögenserhebung bevorsteht, die …« Muckenhans unterbrach ihn erneut: »Und wenn die Auseinandersetzung zwischen Herrn Ketschmar und Herrn Grauer eskaliert wäre – wenn also beispielsweise Herr Ketschmar den Herrn Grauer über den Schreibtisch hinweg angespuckt hätte?«
»Angespuckt? Wie soll das vonstatten gegangen sein?«
»Wir wissen es nicht. Der Angeklagte berichtete uns, er habe aus Wut oder Zorn oder wie man es auch sonst nennen mag, den Herrn Grauer angespuckt. Und uns würde interessieren, ob Sie
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