Beweislast
weiter Ferne an sein Ohr: »Manuel kommt morgen. Er hat gesagt, du bräuchtest dir keine Sorgen zu machen.«
Er erwiderte nichts. Was konnte Manuel schon noch helfen? Der hatte doch schon Sonntagfrüh gesagt, dass er sich den Fragen stellen solle. Stellen – das klang, als sei er schuldig. Als wolle er ein Geständnis ablegen. Wozu eigentlich? Wofür und worüber?
»Du hast doch nichts zu verbergen«, versuchte ihn seine Tochter aufzumuntern. Aber die Feststellung klang eher nach einer Frage.
Ketschmar sank in sich zusammen und verbarg das Gesicht in den zitternden Händen, während er die Ellbogen auf die Tischplatte stützte. Sie würden kommen und auch ihn holen. Läuten an der Tür, vier, fünf Mann, gnadenlose Gesichter, Haftbefehl. »Herr Ketschmar, wir müssen Sie festnehmen.« Er hörte ihre Stimmen. Sie würden ihm Handschellen anlegen – und dann war es aus. Manuel würde zwar viele Schriftsätze verfassen, aber wen interessierte dies, wer würde sie lesen – wenn er hilflos weggesperrt war? Ihn überkamen Hilflosigkeit, Ohnmacht und Zorn. Zuerst hatte dieses System dafür gesorgt, dass er keinen Job mehr bekam – und jetzt würden sie ihm alles nehmen. Sein kleines Vermögen, sein Glück – und letztlich das Leben. Dabei hatte er doch nur gekämpft. Monatelang. Er spürte, dass er verlieren würde.
30
Papierkram. Daten abfragen, vergleichen. Häberle hasste diese Schreibtischarbeit. Zwar konnten auch auf diese Weise wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Doch das wahre Leben fand draußen statt, pflegte er immer zu sagen. Man musste mit den Menschen reden, ihre Stimmungen und Gefühle aufnehmen, die Umgebung, die Atmosphäre. Wer nur Akten und Protokolle las, konnte sich nicht wirklich in die Situation der Menschen versetzen, mit denen er es zu tun hatte. Diese Einstellung vermisste er bei den jungen Kollegen, aber auch bei den Vorgesetzten, die am Schreibtisch groß geworden waren, die zwar so taten, als würden siejeden Paragrafen und jeden Kommentar dazu auswendig kennen. Doch selbst wenn das wirklich so war, was Häberle stets bezweifelte, so konnte theoretisches Wissen niemals die langjährige Erfahrung in der Praxis ersetzen.
Die Kollegen hatten sich in den Fall verbissen, dachte er, als Linkohr in das Büro kam, dessen Tür immer offen stand. »Wir haben die Herrschaften von da draußen mal gründlich gecheckt«, sagte der junge Kriminalist und meinte die Bewohner des abgelegenen Tals. Linkohr, das spürte Häberle, hatte längst erkannt, worauf es ankam. Nicht ewige Konferenzen und langatmiges Schwätzen führten zu Ergebnissen, sondern tatkräftiges Handeln. Wie viel Zeit wurde in dieser Republik tagaus, tagein mit Meetings und Konferenzen verbracht, mit schlauen Reden und hohlem Geschwätz, das nur dem einen Zweck diente, sich selbst in Szene zu setzen – und letztlich kam nur heiße Luft dabei heraus. Häberle musste daran denken, als er den engagierten jungen Kollegen sah, den möglicherweise viele seines Alters ob seines Zupackens belächelten. Ja, so war das mittlerweile: Wer die Ärmel aufkrempelte und nach alter Väter Sitte arbeitete, blieb der ewige Schaffer. Ganz oben saßen keine Schaffer mehr, sondern die mit dem großen Mundwerk. Jene, die sich hochgeschwätzt hatten. Oder die man raufgelobt hatte, weil sie in keiner anderen Position zu etwas zu gebrauchen waren. Ein beliebtes Spiel in Behörden.
Immer, wenn Häberle einen Tag am Schreibtisch verbringen musste, kam er ins Grübeln und überlegte, weshalb er noch immer in den Tiefen des menschlichen Daseins ermitteln musste und nicht, wie viele seiner einstigen Kollegen, fernab des Geschehens in irgendwelchen Führungsstäben saß. Sicher, er hatte es selbst so gewollt. Er war sogar vor einigen Jahren freiwillig vom Landeskriminalamt in die Provinz zurückgekehrt. Weil er erkannt hatte, dass sich das Leben nicht auf Papier und Computerbildschirmen abspielte, sondern an der Werkbank, in der Fabrikhalle, in Büros, wo gemobbt und intrigiert wurde, im Stall und in einem Gott verlass’nen Tal.
Linkohr hatte inzwischen auf dem Besprechungstisch einige Unterlagen ausgebreitet und Häberle war aufgestanden, um zu ihm hinüberzugehen.
»Wenn ich bei diesem Bauleiter Eckert beginne: scheint ein unauffälliger Mensch zu sein. Ist 49 Jahre alt, Bauingenieur und wohnt mit einer 15 Jahre jüngeren Frau zusammen, die nach der politischen Wende aus Polen gekommen ist. Deutschstämmig.« Linkohr blätterte in seinen Unterlagen.
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