Bilder bluten nicht
jemand in meinem Kielwasser trieb. Ich drehte mich unauffällig um und entdeckte unter den Fußgängern einen Mann, der sich viel zu ungezwungen benahm, um nicht auf einer Spur zu sein. Die Hände in den Taschen seines gutgeschnittenen Mantels, den geschmackvollen Hut korrekt auf dem Kopf, rauchte er distinguiert eine feine Zigarette. Dünner Schnurrbart, blasser Teint. Mehr konnte ich nicht sehen. Wir überquerten die Avenue de l’Opéra an demselben Fußgängerübergang, dicht aufeinanderfolgend. Ich konnte ihn nicht mehr in Ruhe beobachten. In Bezug auf den Schnurrbart und den Teint hatte ich mich nicht geirrt. Außerdem hatte er ein längliches Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn und zwei grauen Augen, die sich im Moment recht wenig um mich zu kümmern schienen. Nachdem er die Straße überquert hatte, ging er langsamer, ohne jedoch eine andere Richtung einzuschlagen. Fehlte nur noch, daß ich mich als Fremdenführer verdingte! Meine Route schien dem Fremden zu gefallen. Als ich bei der Passage Choiseul anlangte, war er an der Ecke der Rue Ventadour. Ich verschwand im Flur des Gebäudes, in dem die Agentur Fiat Lux ihren Sitz hat, rannte, vier Stufen auf einmal nehmend, die zwei Etagen hinauf. In meinem Büro öffnete ich das Fenster, um die Straße zu inspizieren. Niemand. Leute, aber nicht mein Mann.
„Was ist passiert?“ fragte Hélène. „Sie sind ja ganz außer Atem?“
„Bin grade von einem Mann leidenschaftlich verfolgt worden“, sagte ich. „Ist ja auch das Wohnviertel dafür. Ein Bursche, der mich für einen dieser Pariser Gecken mit Stupsnase und blasiertem Gesichtsausdruck gehalten hat, Typ Galanterieartikel... Er ist mir bis hierhin gefolgt, und es würde mich nicht wundern, wenn er die Treppe hochkäme. Vielleicht klingelt er...“
Er klingelte nicht. Mit dem letzten Blick, den ich durchs Fenster warf, sah ich ihn, wie er die Fahrbahn überquerte und nachdenklich auf dem Gehsteig der Rue Sainte-Anne stehenblieb. Ich schloß das Fenster.
„Jetzt bin ich an der Reihe, ihm zu folgen“, sagte ich.
In diesem Augenblick läutete das Telefon. Hélène hob ab.
„Limoges ist dran“, sagte sie.
Ich nahm den Hörer.
„Hallo! Limoges? Hier Nestor Burma.“
„Guten Tag, Monsieur“, brüllte jemand so einschmeichelnd wie eine Kuhhirtin.
„Guten Tag, Madame Lheureux.“
„Oh! Nein, Monsieur, ich bin nicht M’ame Lheureux. Ich bin Mariette, die Haushälterin. Madame Lheureux kann nicht kommen. Madame Lheureux kann nicht einfach so herumgehen. Madame Lheureux ist beinahe gelähmt.“
„Sehr gut, sehr gut“, sagte ich.
„Herzlos“, zischte Hélène, die den zweiten Hörer genommen hatte.
„Hm...“, fing ich mich wieder, „äh... ich wollte sagen... nun ja, ich wußte es nicht.“
„Jeder hier weiß es, Monsieur.“
„Gewiß, gewiß. Also, hören Sie, Mademoiselle Mariette. Monsieur Lheureux hatte einen Unfall...“
Ich ließ sie auswendig lernen, was sie Madame Lheureux ausrichten sollte, damit diese sich nicht beunruhigte, fügte noch die üblichen besten Grüße hinzu und legte auf. Ich ging wieder zum Fenster. Mein Verfolger war nicht mehr zu sehen.
„Daß uns das nur nicht den Appetit verdirbt“, sagte ich zu Hélène. „Sollen wir essen gehen? Es ist schon reichlich spät, und ich weiß so ungefähr, wo ich den Schlauberger wiederfinden kann. Wenn ich mich nicht irre, dann habe ich ihn in der Halle des Transocéan gesehen, wo er in einem Clubsessel posierte...“
Während wir aßen, lasen wir die ersten Ausgaben der Abendzeitungen: der Mord an Larpent und die Entdeckung auf seiner Leiche, eine Fälschung des Raffael aus dem Louvre, beherrschten die Schlagzeilen. Eine Reproduktion des Bildes (des echten oder des falschen?) illustrierte den Artikel. Nirgendwo ein Foto des Toten. Es war wohl schwierig, die Züge des Mannes wiederzugeben, so wie ich ihn in dem Keller gesehen hatte. Sie hatten nichts künstlerisch Wertvolles mehr an sich. Und offenbar hatte man in seinem Gepäck kein Foto von ihm gefunden, das man zeigen konnte. Bei genauerer Überlegung war auch nicht einzusehen, wozu die Veröffentlichung eines Fotos hätte dienen können. Trotz der Größe der Schlagzeilen und der Länge der Artikel waren die Berichte zurückhaltend. Keinerlei Anspielung auf Larpents Vergangenheit. Es wurde von ihm nur gesagt, daß er aus der Schweiz gekommen sei und seit einigen Tagen in einem großen Hotel in der Hauptstadt wohne. Der Name des Hotels wurde nicht genannt. Dasselbe
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