Bis ans Ende des Horizonts
nennen willst?«, fragte Pearl.
Charlie antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Mr Blue.«
Bevor sie sich in dem Gestell zum Schlafen hinlegten, schraubte Wanipe eine kleine Blechdose auf und streckte sie Pearl hin. Sie enthielt eine schmierige weißliche Substanz, die von Geruch und Aussehen an Speck erinnerte. Er tippte mit den Fingerspitzen hinein und rieb sie Pearl ins Gesicht. Dabei strich er sanft und beinahe liebkosend mit der Hand über ihre Wangen. »Schweinefett«, sagte er. »Moskito-Fliege nicht beißen.«
Zwei Dinge verstand Pearl in diesem Moment auf Anhieb: Wanipe verabreichte ihr ein natürliches Insektenschutzmittel, und er war sich nun absolut sicher, dass sie eine Frau war.
Während sie sich das Schweineschmalz noch fester einrieb, sah sie Charlie von der Seite an und formulierte lautlos, aber deutlich mit den Lippen: »Er weiß es.« Daraufhin ließ Charlie die Puppe nur mit den Schultern zucken.
Nachdem er eine weitere Zigarette geraucht hatte, setzte er sich neben Wanipe nieder. Er bemühte sich, ihm mit einigen Wörtern in Wanipes Kauderwelsch und mit Zeichensprache zu erklären, dass Pearl nur so tat, als ob sie ein Mann und ein Soldat sei. Außerdem versuchte er Wanipe den Grund zu erklären, warum Pearl überhaupt in diesem Land war, ja warum sie überhaupt beim Militär war. Zunächst schien Wanipe sehr besorgt zu sein, dann hatten die beiden den Eindruck, er würde überhaupt nichts verstehen, bis Charlie endlich ein verständlicher Kauderwelsch-Begriff für »Ehemann« einfiel. Erst jetzt schien Wanipe ein Licht aufzugehen, und er lächelte verständnisvoll. Dabei enthüllte er die ganze Breite seines rötlich gefärbten Mundes mit den braun gefleckten Zähnen. Er griff nach Pearls Hand, hielt sie beinahe tröstend fest und murmelte: »Schön Junge. Zu schön.« Danach lächelte er erneut und nickte und sagte, er würde ihr dabei helfen, den Mann zu finden, den sie suchte.
Für Pearl war es eine große Erleichterung, ihr Geheimnis mit einer weiteren Person teilen zu können. Zu dritt verbrachten sie die Nacht in dem zeltartigen Unterschlupf, sie legten sich nebeneinander unter ein einziges Moskitonetz. Es begann wieder zu regnen. Pearl lag zusammengekauert mit dem Welpen in ihrem Schlafsack. In der Ferne knallten immer wieder Schüsse in den Bergen. Sie verbrachten zum ersten Mal eine Nacht wirklich im Freien, außerhalb eines Militärcamps und ohne den Schutz weiterer Soldaten.
Im Morgengrauen senkte sich leichter Nebel von den Bergen und breitete sich im Tal aus. Wanipe drängte zu schnellem Aufbruch, bevor es zu heiß wurde. Nach einem kurzen Frühstück, Tee und Zwieback, packten die drei zusammen und marschierten Richtung Norden weiter. So früh am Morgen war die Luft noch frisch, angenehmer als die schwüle Hitze an der Küste. Pearl war ausgeruht und ging ganz zuversichtlich los. Doch gegen Mittag wateten sie wieder durch Sumpfgebiet, wo es von Blutegeln und summenden Moskitoschwärmen nur so wimmelte. Manchmal verließen den Welpen die Kräfte; dann nahm Pearl ihn hoch und verstaute ihn vorn in ihrem Hemd, sodass jeder den Herzschlag des anderen spüren konnte. Es kam ihr albern vor, das Hündchen »Pearl« zu nennen, weshalb sie eine Zeitlang überlegte, ob sie ihm den Namen James geben sollte. Aber da es eben ein Weibchen war, einigte sie sich nach einigem Hin und Her mit Charlie auf die neutrale Bezeichnung »Pup«.
An einer Stelle schlugen sie eine falsche Richtung ein, da sie die Karte nicht richtig gelesen hatten, und gingen eine Weile an einem Bach entlang. Erst als ihnen ein Luftzug den Geruch von gekochtem Reis zutrug, merkten sie, dass sie die unsichtbare Front überschritten hatten und in feindliches Gebiet vorgedrungen waren. So schnell wie möglich traten sie den Rückzug an, und eine Stunde später stießen sie eher durch Zufall auf einen Außenposten der Alliierten. Dieses vorgeschobene Dschungelcamp bestand aus nicht mehr als einigen Hängematten, die zwischen Baumstämmen aufgespannt waren, sowie einer Art überdachtem Unterschlupf, der seitlich auch nur mit Fliegengitter bespannt war. Nach den Regenschauern am Nachmittag war rundherum alles feucht, der Boden war sowieso längst mit Moos bedeckt. An diesem Posten hielten acht Amerikaner die Stellung, allerdings litten drei bereits an Ruhr und Malaria. Sie lagen in der sehr provisorischen Hütte, mussten sich oft übergeben oder wegen des Durchfalls auf ein in der Mitte durchgeschnittenes Benzinfass
Weitere Kostenlose Bücher