Bis ans Ende des Horizonts
sie es, regelrecht Pirouetten zu drehen, sich auf alle viere fallen zu lassen, überzurollen und wieder von vorn anzufangen.
Ihre offizielle Premiere hatte sie in einem Feldlazarett, das an einem Berghang aufgebaut worden war. Mr Blue sang Take the »A« Train , wozu ihn Pearl auf der Orgel begleitete und der Hund seine kleinen Kunststückchen vollführte. Das gesamte Publikum aus abgespannten Sanitätern und Verwundeten applaudierte und pfiff begeistert. Pups Vorführung erwies sich als der Höhepunkt der ganzen Vorstellung, und die Soldaten verlangten eine Zugabe.
Mit jeder Vorstellung verbesserte sich Pup natürlich auch. Und hinterher kamen alle Soldaten stets herbeigelaufen, um sie zu streicheln, sie mit Häppchen zu füttern, und sie wurde wie ein kleines Baby von einem zum anderen weitergereicht. Und fast immer zogen sie aus ihren Brieftaschen Fotografien ihrer eigenen Hunde zu Hause hervor – verblichene und zerknitterte Bilder von Bassets mit Schlappohren, struppigen Hirtenhunden und geifernden Labradoren. Falls Herr und Hund gemeinsam abgebildet waren, konnte Pearl die hageren Gestalten, die vor ihr standen, kaum wiedererkennen. Pearl ging der Gedanke durch den Kopf, dass Pups Vorführung für die Soldaten vielleicht deshalb von besonderer Bedeutung war, weil der Hund eine Welt voller Zuneigung, Zärtlichkeit und Behaglichkeit repräsentierte, von der sie seit Monaten, wenn nicht seit Jahren abgeschnitten waren. Und wenn sie ihn mit Zwieback verwöhnten und hinter den Ohren kraulten, dann kam es ihr so vor, als würden Liebe und Freundlichkeit in diesen Männern allmählich wieder zum Leben erweckt.
Wanipe hatte inzwischen auch einen Soloauftritt mit seiner Zuckerrohrflöte. Währenddessen nutzte Pearl die Zeit, um sich hinter einem Gebüsch oder in einem Zelt umzuziehen; sie schlüpfte dann in das rote Kleid, setzte die Perücke auf und legte rasch Schminke auf. Sie hatte inzwischen ein beachtliches gesangliches Können entwickelt, ganz ähnlich ihrer neu erworbenen Virtuosität mit dem Saxofon. Ihre Improvisationen auf dem Instrument beruhten auf dem, was James ihr beigebracht hatte, und bei der Spieltechnik spielte ihre verbesserte Zirkularatmung eine erhebliche Rolle. Sämtliche Rohrblätter waren längst kaputt und ausgefranst, sodass sie sich ihre eigenen aus Bambus zurechtschneiden musste.
Jegliche Zeit, die sie auf diesem Marsch in die Wolken erübrigen konnte, verbrachte Pearl mit Saxofon üben. Wenn sie sich sicher sein konnte, dass ihre Gruppe weit genug von feindlichen Stellungen entfernt war, probte sie ihre neue, verhaltenere Spielweise wie ein Schauspieler, der immer wieder seinen Text durchgeht und die Zeilen vor sich hin murmelt. Sie übte insbesondere vor und nach den Vorführungen, im stechenden weißen Licht des Nachmittags, in der Abenddämmerung genauso wie beim Rattern der Maschinengewehre in den Bergen ringsum oder wenn sich dunkle violette Schatten auf die Hänge senkten. Sie übte am Rande von Bächen und versuchte das Plätschern des vorbeifließenden Wassers nachzuahmen, und mit jedem Tag wurde ihr melodischer Duktus leichter und fließender. Ab und zu sah sie Vögel mit so dünnen Körpern, dass sie wie Bleistifte mit Federhut wirkten; es gelang ihr, deren Tschilpen auf ihrem Instrument so gut widerzugeben, dass die Vögel darauf antworteten.
Sie wusste, dass diese Art von lyrischer Spielweise eine bezwingende Kraft ausstrahlte, gerade wenn sie bis zu den Knöcheln im Matsch in Schützenlöchern stand und Lieder wie What is This Thing Called Love vortrug. Diese neue Spielweise ließ die Soldaten ihre durchnässten Uniformen, die Insekten, die sich an ihren Händen und Hälsen festbissen, ihre Hungerkrämpfe und das entfernte Böllern der Mörser vergessen.
Pearls Musik war eine eigenartige Mischung aus allem, was James versucht hatte, ihr beizubringen, und jener schwer fassbaren Lebenskraft, die ihr ganzes Selbst ausmachte. Darin lag sowohl die Angriffslust eines Kriegers als auch die innere Zurücknahme eines Mönchs. Beim Üben kam es manchmal vor, dass Pup ihre Ohren ausrichtete und sich alsbald auf die Hinterbeine erhob und über den Boden tänzelte. Das erinnerte Pearl an all die Frauen, die sich über den glatten Parkettboden im Tanzsaal des Trocadero immer wieder im Kreise drehten. Im Vergleich zu dem Mädchen von vor einem Jahr kam sie sich wie ein ganz anderer Mensch vor, voller Selbstvertrauen bis an die Grenze zur Leichtsinnigkeit, aber auch mit dem kindischen
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