Bis ans Ende des Horizonts
sprachen offenbar völlig verschiedene Sprachen. Aber selbst das galt ihnen anscheinend a ls Ausweis seiner wahrhaft übernatürlichen Erscheinung und unterstrich das geradezu jenseitige Mysterium der Anwesenheit dieser drei.
Einer der beiden größeren Männer zog sich sein Halsband über den Kopf und reichte es ehrerbietig Charlie hin. Es bestand aus dünnen Bambusplättchen und leuchtend roten Federn. Charlie nickte ihm lächelnd zu, nahm es entgegen und hängte es sich selbst um den Hals. Dann bot der andere Eingeborene sein Halsband Pearl an, und sie nahm es ebenfalls mit einem Nicken und einem Lächeln entgegen. Wanipe erhielt einen polierten Knochen von einer der umstehenden Frauen. Pearl überlegte, was sie den Leuten als Gegengabe anbieten könnte. Sie schnallte den Tornister ab, durchwühlte eine der Außentaschen und zog drei Päckchen Rasierklingen hervor, die sie seit Wochen mit sich herumgeschleppt hatte.
Nachdem sie anschließend ins Dorf gezogen waren, zeigten Pearl und Charlie, wie man mit den Rasierklingen mühelos Süßkartoffeln schälen, Bambus schnitzen, Holz glätten und Haare abrasieren konnte. Dadurch erlangte das bleiche weiße Paar einen noch höheren mystischen Rang; sie galten als mit Zauberkräften begabte Geister, die zu ihnen gesandt waren, um ihnen zu helfen. Einige Männer schlachteten ihnen zu Ehren ein Schwein und begannen damit, es in einer Lehmkuhle in der Mitte des Dorfes zu braten. Unterdessen zerrten die Kinder und die Frauen Pearl und Charlie von einer Hütte zur nächsten, um ihnen zu zeigen, wo und wie sie lebten.
Inzwischen war es dunkel geworden, aber die Nacht wurde von einem prasselnden Lagerfeuer, hoch wie ein Scheiterhaufen, erhellt. Der köstliche Duft von brutzelndem Fleisch und Raucharoma waberte über die Ebene. Süßkartoffeln wurden in die Glut geworfen. Die Kinder rannten herum und spielten mit Pup. Einige Männer schafften Trommeln herbei, die aus ausgehöhlten Baumstämmen gefertigt waren. Sie setzten sich im Kreis um das Feuer und schlugen mit den Händen komplexe, lang ausschweifende Rhythmen, die sich in Metren und Taktungen verdichteten oder umschlugen, die weder Pearl noch Charlie erfassen und denen sie nicht mehr folgen konnten. Die Taktakzente fielen an merkwürdigen Stellen und in einer Reihung von Schlägen, die man kaum mehr mitzählen konnte. Dennoch konnte man bei keinem der Trommler ein Zögern beobachten, und alle spielten vollkommen synchron. Diese Musik kam den beiden so vor, als wollte sie das Trommeln des Regens auf die Hausdächer an einem bestimmten Abend nachahmen, oder das Stampfen der Hufe einer Herde wilder Schweine, wenn sie einen Berg hinabgaloppierten.
Das gemeinsame Mahl wurde immer heiterer und geselliger. Die drei dachten nicht mehr an ihren Weitermarsch, die gestohlene Orgel oder den Befehl, welches Camp als Nächstes erreicht werden musste. Alle ließen sich das Schweinefleisch und die Süßkartoffeln schmecken – auch für die Götter eine willkommene Abwechslung nach den eintönigen Militärrationen. Anschließend wurden Betelnüsse zum Kauen verteilt und der rötliche Speichel ständig in das Feuer gespuckt. Barbusige Frauen in Grasröcken sangen Lieder mit ihren hohen Sopranstimmen und wiegten sich dazu in den Hüften hin und her. Wanipe zog seine selbst geschnitzte Flöte hervor und begleitete die Frauen, als sie um ihn herumtanzten.
Pearl verschwand kurz in der nächstgelegenen Hütte und entledigte sich komplett ihrer stinkenden Uniform. Sie schlüpfte in das lange rote Abendkleid und setzte sich die blonde Perücke auf. Aber statt der dicken, geradezu aufdringlichen Schminke, die sie sonst für ihre Travestie verwendete, trug sie nur einen dünnen Glanz auf Lippen und Wangen auf und umrandete die Augen mit Kohlestift. Aus einer Schale in einer Ecke der Hütte nahm sie sich eine Blüte, steckte sie sich hinters Ohr und entledigte sich zu guter Letzt endlich auch der Armeestiefel. Die Verwandlung – oder vielmehr die Rückverwandlung in den natürlichen Zustand – empfand Pearl als ausgesprochen belebend und befreiend. Zum ersten Mal fühlte sich das Kleid nicht wie eine Kostümierung an.
Die Dorfbewohner starrten sie teils verwirrt, teils ungläubig an, als sie sich wieder neben Charlie setzte. Vielleicht dachten sie, Pearl hätte sich von einem Mann-Geist in einen Frau-Geist verzaubert. Eine der jungen Frauen eilte herbei und wollte ihre Hände um Pearls Brüste legen, aber diese waren so klein, dass sich das
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