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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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Mädchen wieder vollkommen verwirrt auf seinen Platz setzte.
    Pearl unterdrückte ein Lachen und drehte sich zu Charlie: »Wie wäre es mit Sophisticated Lady ? Das kennst du doch sicher, oder?« Er zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte noch nie eine Blues-Ballade gesungen, und erst recht nicht diese.
    Charlie spielte eine viertaktige Einleitung auf der Harmonika, und sie hob den Saum ihres Kleides und wandte sich dem Publikum zu. Die Stimme, mit der sie zu singen begann, unterschied sich deutlich von derjenigen, die sie bei ihren Auftritten vor den Soldaten benutzte – sie war leiser und kontrollierter und gleichzeitig beschwingter.
    Sophisticated Lady war ein zartes, sehr feminines Lied, das auch ausschließlich von Sängerinnen vorgetragen wurde. Sie war froh, endlich einmal von dem Zwang, ihren Bruder verkörpern zu müssen, befreit zu sein, ständig auf der Hut sein zu müssen. Wenn sie vor den Soldaten eine Frau darstellte, hatte sie ständig Angst, mit einem Hüftschwung oder einem entblößten Bein ihre wahre Identität preiszugeben.
    Vor diesen eingeborenen Stammesleuten zählten jedoch weder Name noch Nationalität oder Geschlecht, diese Art von Anonymität wirkte begeisternd. Sie galt hier nicht einmal als menschliche Kreatur, sondern als übernatürliches Wesen, das seine Gestalt nach Belieben verwandeln konnte. So konnte sie singen, was sie wollte, und sich bewegen, wie sie wollte. Daher schlenderte sie unbeschwert um das Feuer herum, sah in erwartungsvolle Augen, sang wie einst mit unverstellter Stimme.
    Als sie den letzten Ton aushielt, war dies das einzige Geräusch weit und breit auf dieser Seite des Berges, und als sie geendet hatte, saßen alle stumm vor Staunen da. Im ersten Moment fragte sie sich, ob sie vielleicht unbeabsichtigt ein Tabu gebrochen oder ihre Zuhörer enttäuscht hatte. Doch schließlich fing Wanipe langsam an zu klatschen, und nach und nach stimmten immer mehr Leute mit ein, bis das ganze Dorf in rasenden Applaus ausbrach.
    Danach verwandelte sich der Abend in eine lange Musiknacht, zu der die Trommeln und die Flöten der Eingeborenen genauso beitrugen wie deren traditionelle Tänze auf der einen Seite, Stepptanz auf der anderen Seite, Jazzrhythmen aus dem Saxofon und der Harmonika wie die komplizierten Rhythmen der Stammesleute. Plötzlich tauchten Frauen mit einem Kopfputz aus Paradiesvogelfedern auf, und Männer rieben sich hellen Lehm in ihr Gesicht, bis sie selbst wie Geister wirkten. Kinder rannten zu Pearl und hoben ihr Kleid an, um nachzusehen, ob sie eine Frau oder ein Mann war. Schließlich war es ihr selbst völlig egal, und sie hob den Saum ihres Kleides bis zur Hüfte und tanzte mit den anderen Frauen – genau wie diese mit nacktem Hinterteil und für alle sichtbarem blondem Schamhaardreieck. Anschließend spielte sie ihr Saxofon gleichzeitig zu den unermüdlichen Trommelschlägen und gab alles, um mit ihnen zu verschmelzen.

21
    Am nächsten Morgen führten zwei Stammesälteste Pearl, Charlie und Wanipe über den Pfad auf den Bergkamm, damit sie ihren Weg wiederfanden. Ein Haufen Kinder folgte ihnen. Die Ältesten versuchten sie zu verscheuchen, aber die Kinder weigerten sich, in ihr Dorf zurückzukehren, bis Charlie ihnen seinen kleinen Handspiegel überließ, den sie so bewunderten. Als sie einen steilen Abhang erreichten, der mit Kreidefelsen und hohen Farnen gesäumt war, zeigten die Männer auf den gut sichtbaren Pfad hangabwärts, der in ein Tal führte. Unten konnte man die Gärten von Eingeborenendörfern und Wiesen sehen. Gegenüber erhob sich ein schieferfarbener Bergrücken, dessen Gipfel wieder in Wolken lagen. Da und dort stürzten Bäche die Hänge hinab, sodass es aussah, als ob sie direkt aus dem Himmel flossen. Es war ein schmerzlicher Abschied für alle. Pearl dachte bereits voller Sehnsucht an den vergangenen Abend, wo sie den größten Spaß seit ihrem Aufbruch gehabt hatten. Irgendwie erinnerte es sie an zu Hause, an ihre eigene Familie, wenn sie gelegentlich im Wohnzimmer die Möbel beiseitegeschoben, sich um das Klavier herum versammelt und alle der Reihe nach irgendetwas gesungen, getanzt oder vorgeführt hatten. Weil sie am heutigen Tag nicht auf einer Bühne stand, hatte sie sich wieder in einen Mann verwandelt und trug ihre Khakiuniform, Stahlhelm und Militärstiefel.
    Sie waren auf dem Weg zu einem weiteren Feldlazarett, das sich etwa zwölf Kilometer vom Fuß des Berges entfernt befinden sollte, und hofften, es bis zum Abend erreichen zu

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