Bis aufs Blut - Thriller
hatte, dann hatte er auch die Tochter mitgenommen. War sie unter Zwang mitgegangen? Falls ja, dann war sie eher Geisel als Komplizin, und das würde zu berücksichtigen sein, wenn der Moment kam, den Killer zu stellen.
Harrisons Schlafzimmer schien nicht durchsucht worden zu sein, und auch das Zimmer der Tochter war aufgeräumt und ordentlich. Auf einem Regal über ihrem Bett stand eine Reihe von Taschenbüchern. Hoffer schlug eins davon auf und sah ihren Namen in der Ecke des Vorsatzblattes: Bel Harrison. Bel, kurz für Belinda. Hoffer hielt sich noch ein bisschen länger in ihrem Zimmer auf und versuchte, etwas mehr über sie zu erfahren. Viel Kleidung hatte sie nicht mitgenommen; Schubladen und Kleiderschrank waren mehr als halb voll. Wie immer, wenn er Zutritt zum Schlafzimmer einer Frau hatte, widmete er der Schublade mit der Unterwäsche besondere Aufmerksamkeit. Unterwäsche verriet eine ganze Menge über ihre Besitzerin. Das hätte man zu einer kriminalistischen Disziplin erheben sollen, wie die Erstellung von psychologischen Profilen. Er holte einzelne Stücke heraus, sog den Waschmittelgeruch ein, legte sie dann wieder zurück.
An den Wänden hingen keine Poster, nichts deutete auf irgendwelche Hobbys hin. Das Zimmer gab ungewöhnlich wenig von seiner Besitzerin preis. Er schaute unters Bett und sogar unter den Teppich, aber er fand keine Spur von Drogen. Verhütungsmittel schienen auch keine zu existieren.
»Ein anständiges Mädel vom Lande«, sagte er zu sich. »Bloß, Schätzchen, dass dein Papa einen illegalen Waffenhandel betrieb und du jetzt mit dem Feind durch die Gegend ziehst.«
Wieder unten, nahm er sich noch den Keller vor. Er enthielt ein paar Flaschen Wein und Spirituosen, dazu eine Tiefkühltruhe sowie etwas Werkzeug und Material für den Heimwerkerbedarf. Er suchte sich eine Flasche Scotch aus, ging damit nach oben in die Küche, schenkte sich etwas ein, wischte die Flasche dann mit einem Tuch sauber und hielt sein Glas mit einem Stück Haushaltspapier fest. Nachdem er ausgetrunken hatte, ging er noch einmal durchs Haus und wischte die Türklinken und alle übrigen Flächen ab, die er mit den Fingern berührt hatte. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein und machte sich auf den Weg zu den Wirtschaftsgebäuden. Den überdachten Schießstand fand er auf Anhieb. Der Anlagenlänge nach zu urteilen, ließ sie sich nicht nur für Faustfeuerwaffen, sondern auch für Gewehre verwenden. Waffen hatte er noch immer keine gefunden. Es musste irgendwo ein verstecktes Lager geben. Wenn es ihm gelungen wäre, es zu finden, hätte er sich eindecken können. Er suchte zwanzig Minuten lang ohne Erfolg und kehrte dann in die Küche zurück.
Er goss sich einen weiteren Whisky ein und setzte sich an den Tisch. Das Gemetzel im Wohnzimmer sah dem D-Man nicht ähnlich, denn der hielt gern Abstand. Er hatte noch nie aus nächster Nähe getötet. Und dass ein geübter Scharfschütze plötzlich auf Dolch oder Rasiermesser, oder was immer da benutzt worden war, zurückgriff... Nein, das war nicht das Werk des D-Mans gewesen. Womit zwei Fragen übrigblieben. Wer war der Täter? Und was trieb Bel Harrison mit dem D-Man?
In der Küche stand ein Telefon, an das ein Anrufbeantworter angeschlossen war. Er spielte das Band ab, aber es gab keine Nachrichten. Es boten sich mehrere Optionen an. Er konnte die Polizei anrufen und auf ihr Eintreffen warten. Er konnte sie anonym anrufen und anschließend verschwinden. Er konnte sofort verschwinden, ohne irgendjemanden zu informieren. Oder er konnte dableiben und warten, ob der Mörder oder aber der D-Man auftauchen würde. Dass die Tochter früher oder später zurückkehrte, war ja anzunehmen. Vielleicht wäre die Leiche bis dahin entdeckt worden. Selbst an diesem Außenposten der Zivilisation musste gelegentlich der Postbote vorbeikommen. Die Leiche war noch halbwegs frisch. Die Vorstellung, dass Bel Harrison erst in ein paar Tagen oder gar Wochen über sie stolpern könnte, war Hoffer nicht sehr sympathisch.
Andererseits, wollte er wirklich einen neuen Schwung Polizisten am Hals haben? Was, wenn sie den D-Man verscheuchten?
Hoffer wusste nicht, was er tun sollte, also überließ er die Entscheidung einem weiteren Glas Whisky.
Dann fuhr er zurück in Richtung Ripon und suchte sich ein Bett für die Nacht.
16
Das Erste, was ich nach dem Frühstück sah, war Leo Hoffer.
Das mag verrückt klingen, ist aber wahr. Als ich auf mein Zimmer zurückkam, um fertigzupacken,
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