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Bis dass der Tod uns scheidet

Bis dass der Tod uns scheidet

Titel: Bis dass der Tod uns scheidet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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Anruf. Ich war mir sicher, dass Phils Träume nur so platzten von dem Wunsch nach grenzenloser Macht.
    »Hier spricht Leonid McGill«, sprach ich aufs Band. »Ich habe jeden nur erdenklichen Versuch unternommen, Sie zu erreichen, Mr. Tyler, aber Sie haben mir immer und immer wieder eine Abfuhr erteilt. Versuchen wir es also anders: Entweder Sie erscheinen morgen Vormittag in meinem Büro, oder ich gehe morgen Nachmittag zur Polizei.«
    Zum ersten Mal seit vielen Tagen war ich zufrieden.
    Ich ging zur Besenkammer, zog ein Faltbett heraus, stellte es im Gang auf und legte mich hin. Ich schlief, noch bevor ich die Augen ganz geschlossen hatte.

48
    Träumen ist das wahre Genie des Menschen , hatte mein Vater mir eines Nachts nach einem Horror von Albtraum gesagt. Ich war sechs Jahre alt gewesen und hatte am Abend zuvor Angriff der 20-Meter-Frau gesehen, den Science-Fiction-Klassiker aus den Fünfzigern. Sie jagte mich den Broadway entlang. Die Straßen waren menschenleer, und ich musste derart keuchen, dass meine Lungen sich wie verknülltes Papier anfühlten. Ich schrie noch immer, als mein Vater mich hochhob. Ich klammerte mich so fest an ihn, dass mir Arme und Finger schmerzten. Ich wollte nicht loslassen. Der alte Tolstoy trug mich zu seinem Lieblingssessel, wiegte mich und wartete darauf, dass das Schluchzen und Schütteln nachließ. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, erzählte er mir von Träumen und Genie. Er versuchte nicht, die Wirkung des Traums abzuschwächen. Nein. Er akzeptierte die Angst, und das tat ich auch. Er lobte meine erschütternde Erfahrung als Bravourakt.
    Am Morgen auf dem Klappbett da im Gang war ich schon auf halbem Wege zum Wachsein, aber ich hielt die Augen geschlossen, und das Reich der Träume war noch ganz nah. Meine Gedanken waren Bilder, keine logischen Anordnungen. Eine Kommune auf einer Farm, ein Cowboy band seinen Palomino an ein Geländer, das nur für ihn angebracht worden war. Ein Mann im Frack, aber mit dem Gesicht des Cowboys, trat durch die Schwingtür hinaus (aus der Kommune war ein Saloon geworden). Die Vorderwand löste sich vom Gebäude ab und stürzte auf die beiden Männer. Das Pferd wurde erschlagen, doch der schmucke Gentleman stand in der Tür, und der Broncoreiter in einem offenen Fenster. Beide waren sie unverletzt, ringsumher erhob sich eine Staubwolke.
    »Mr. McGill.«
    Cowboys und Kommune/Saloon. Und dann schwirrten da noch ein Ei wie das andere und blankes Glück herum, zwei Phrasen, die in meinem Traum irgendwie dieselbe Bedeutung hatten.
    »Mr. McGill«, sagte eine andere Stimme.
    Zum ersten Mal ging mir richtig auf, wie schwer es wohl sein musste, ein Gedicht zu schreiben.
    Ich schlug die Augen auf. Über mir standen Iran Shelfly und Mardi Bitterman. Ihre Nähe – und ich lag auf einem Bett in einem für immer leeren Büroraum – drohte zum zweiten Erstentwurf eines Gedichts an jenem Morgen zu werden.
    »Hi«, sagte ich.
    Iran trug einen senffarbenen Anzug und ein gelbes T-Shirt, beides natürlich körperbetont. Mardis ätherisches Kleid war cremefarben mit rosa Rosen. Ich atmete durch die Nase und rechnete schon halb damit, dass mich der Duft dieser Rosen betäuben würde.
    »Zeit aufzustehen, Boss«, verkündete Mardi.
    Ich war, von den Schuhen abgesehen, bekleidet und setzte mich auf. Ich hatte einen Kater, ohne etwas getrunken zu haben. Ich war ein Elitesöldner, bewaffnet mit nichts als Poesie.
    »Wie spät ist es?«
    »Acht Uhr einundzwanzig«, antwortete der Exknacki.
    Ich suchte den Boden nach meinen Schuhen ab. Bevor ich loshechten konnte, hatte Mardi sich schon vorgebeugt und zog mir doch tatsächlich die Lastkähne von Schuhen über die noch immer besockten Füße. Diese Handlung besänftigte etwas tief in mir.
    »Cyril Tyler sitzt im Vorderzimmer«, sagte sie und bemerkte meine Zufriedenheit.
    »Was?«
    »Er stand schon vor der Tür, als Iran und ich hier eintrafen«, fuhr sie fort. »Wir haben ihm gesagt, Sie seien noch nicht da. Das habe ich zunächst auch geglaubt, bis ich bemerkt habe, dass nur ein Schloss zugesperrt war.«
    »Warum hat er nicht geklingelt?«
    »Das hat er getan, genau in dem Augenblick, als wir eintrafen.«
    Der Traum war wohl doch mächtiger gewesen, als ich dachte.
    »Was sollen wir machen, Mr. McGill?«, fragte Iran.
    Ich stand auf, wankte ein wenig, dann wurde alles klar.
    »Du gehst an deinen Schreibtisch, Eye. Ich gehe ins Bad und wasche mir das Gesicht. In zehn Minuten führst du Mr. Tyler zu mir«, sagte ich zu

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