Bis ich dich finde
flüsterte Alice. »Wenn ihr unbedingt flüstern
müßt, flüstere ich auch«, sagte sie und stieg in Emmas Bett.
Seltsamerweise war es ihre über dem Herzen liegende Brust, die
schwer mitgenommen aussah – nicht die, an der man die Lumpektomie vorgenommen
hatte. Ihr gebrochenes Herz hatte die blauschwarze Farbe einer Prellung, das
kursiv geschriebene dich war so belanglos, als stünde
es auf dem Zehenschildchen eines völlig Fremden in einer Leichenhalle.
Mrs. Oastler und Jack kuschelten sich von beiden Seiten an Alice.
»Bitte bringt mich nach Hause«, flüsterte seine Mutter in einem fort.
»Du bist doch zu Hause«, sagte Leslie zu ihr und küßte dabei ihren
Hals, ihre Schulter und ihr Gesicht. »Oder meinst du Edinburgh, Alice?«
»Nein, nach Hause «, sagte Alice etwas
heftiger. »Du weißt, was ich meine, Jack.«
[688] »Was denn, Mom?« (Jack wußte, was sie meinte; er wollte nur
hören, ob sie es auch sagen konnte.)
»Ich meine die Nadeln, Liebes«, sagte seine Mutter. »Es ist Zeit,
mich zu meinen Nadeln zu bringen.« Das war es, was Tochter Alice, wenig
überraschend, mit Nachhausegehen meinte.
[689] 26
Ein kleingläubiger Junge
Jacks Mutter starb friedlich im Schlaf, ganz so, wie es
Maureen Yap vorausgesagt hatte.
Fünf Tage und fünf Nächte verbrachte sie auf dem Schlafsofa im Daughter Alice,
wo sie schlief und aufwachte und wieder einschlief. Leslie und Jack blieben
abwechselnd bei ihr. Sie hatten festgestellt, daß Alice weniger ausfallend
wurde, wenn sie nicht beide gleichzeitig bei ihr waren, und für drei Personen
war das Schlafsofa ohnehin nicht groß genug.
In der fünften Nacht war Leslie an der Reihe. Alice wachte auf und
fragte Mrs. Oastler, ob sie ein bißchen Bob Dylan hören dürfe. Eingedenk der
Beschwerden bei der Polizei drehte Leslie die Lautstärke nicht so weit auf.
»Ist das laut genug, Alice?« fragte sie.
Es kam keine Antwort. Mrs. Oastler nahm zunächst an, Alice sei
wieder eingeschlafen; erst als sie sich neben sie ins Bett legte, bemerkte sie,
daß Alice zu atmen aufgehört hatte. (Wie sich herausstellte, war ein von Krebs
zerfressenes Blutgefäß in ihrem Gehirn geplatzt.)
Jack lag gerade mit Bonnie Hamilton in deren Haus im Bett, als das
Telefon klingelte. Noch ehe Bonnie abnahm, spürte er, daß seine Mutter in den
Nadeln schlief. »Ich sage es ihm«, hörte er Bonnie sagen, während er sich noch
in dem verdunkelten Schlafzimmer zu orientieren versuchte. »Das sage ich ihm
auch.«
»Alice ist im Schlaf gestorben – sie hat einfach zu atmen
aufgehört«, hatte Mrs. Oastler ohne Umschweife verkündet. »Ich finde, Jack und
ich sollten bis zum Morgen bei ihr bleiben. Ich möchte nicht, daß sie sie im
Dunkeln wegbringen.«
Alice hatte mit Leslie und Jack darüber gesprochen, wie sie [690] sich
ihre Trauerfeier vorstellte. Untypischerweise hatte sie genaue Angaben gemacht.
»Sie soll an einem Samstagabend stattfinden. Falls euch die Getränke ausgehen,
sind die Getränkeläden dann noch offen.«
Jack und Mrs. Oastler hatten ihr ihren Willen gelassen, obwohl der
Gedanke, bei einem Ereignis, das in der Kapelle von St. Hilda seinen Anfang
nahm, könnte der Alkohol ausgehen, unvorstellbar war. Alice war keine
Ehemalige. Vielleicht würden ein paar Ehemalige erscheinen, aber das wären dann
alte Freundinnen von Leslie, und die tranken nicht viel. Jacks Anwesenheit (so
kurz nach seiner Teilnahme an der Trauerfeier für Emma) würde den Reiz des
Neuen gewiß auch weitgehend eingebüßt haben. Aus echter Zuneigung zu ihm würde
der eine oder andere aus dem Lehrkörper erscheinen. Zweifellos würden auch
einige Internatsschülerinnen kommen, aber auch die tranken nicht. Anders als
bei der Trauerfeier für Emma würde die Kapelle, nahmen Mrs. Oastler und Jack
an, vergleichsweise leer sein.
»Der Leichenschmaus soll in der Sporthalle stattfinden, nicht in der
Aula«, hatte Alice sie instruiert. »Und niemand soll etwas sagen – keine
Gebete, bloß Gesang.«
»Kirchenlieder?« hatte Leslie gefragt.
»Es soll eine Abendandacht sein«, hatte Jacks Mutter, die ehemalige
Chorsängerin, gesagt. »Darum soll sich Caroline Wurtz kümmern, Leslie. Du hast
keine Ahnung von Kirchenmusik, und Jack mag Musik überhaupt nicht.«
»Ich mag Bob Dylan, Mom.«
»Heben wir uns Bob für den Leichenschmaus auf«, hatte Mrs. Oastler
etwas befremdet vorgeschlagen.
Leslie und Jack merkten es einfach nicht. Die Äußerung über die
möglicherweise ausgehenden Getränke hätte sie
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