Bis ich dich finde
zuviel, wenn wir jetzt schon über spezielle
Diagnosen sprechen. Sagen wir vorläufig einfach, daß Ihr Vater [1063] Verluste
erlitten hat«, sagte Professor Ritter zu Jack. »Frau Ringhof, seine deutsche
Frau, vor allem aber Sie. «
»Er ist ein ungeheuer emotionaler Mensch«, sagte Dr. Berger
kopfschüttelnd – offensichtlich wünschte er, William Burns hätte mehr von einem
Faktenmenschen.
»Die Antidepressiva haben geholfen – mehr sage ich nicht«, sagte Dr.
Krauer-Poppe.
»Ihn von Spiegeln fernzuhalten, hilft ebenfalls«, bemerkte Dr. von
Rohr, ganz silbergesträhnte Oberärztin.
»Gibt es noch andere Auslöser?« fragte Jack das Team.
»Nun ja…«, sagte Professor Ritter. »Vielleicht sollte Jack zuerst
einmal seinen Vater treffen?« (Das Team, merkte Jack, war nicht dieser
Meinung.)
»Bach!« dröhnte Dr. Horvath. »Alles von Bach.«
»Bach, Buxtehude, Stanley, Widor, Vierne, Dubois, Alain, Dupré –«,
zählte Dr. Berger auf.
»Händel, Balbastre, Messiaen, Pachelbel, Scheidt –«, unterbrach Dr.
von Rohr.
»Und alles, was mit Weihnachten oder Ostern zu tun hat – jedes
einschlägige Kirchenlied«, fügte Dr. Huber hinzu. Sie funkelte ihren Piepser
an, wie um ihm zu bedeuten, daß er ja keinen Laut von sich geben sollte.
»Die Musik ist ein Auslöser? Oder die bloßen Namen bestimmter
Komponisten?« fragte Jack.
»Die Musik und die Namen bestimmter
Komponisten«, antwortete Dr. Krauer-Poppe.
»Und wenn er Klavier oder Orgel spielt?« fragte Jack.
»Nun ja…«, sagte Professor Ritter
»Wenn die Schmerzen einsetzen –«, begann Dr. Krauer-Poppe.
»Wenn er Krämpfe in den Fingern bekommt –«, warf Dr. Huber ein.
»Wenn er Fehler macht«, sagte Dr. von Rohr
gleichsam zusammenfassend – fast alles, was sie sagte, äußerte sie mit dem [1064] Nachdruck und der Bestimmtheit einer abschließenden Bemerkung; hinzu kam,
daß sie als hochgewachsener Mensch ständig auf andere herabsah. Im Sitzen
wirkte Dr. von Rohr nicht weniger groß. (Beim Händeschütteln hatte Jack
festgestellt, daß er ihr bis zur Schulter reichte.)
»Ja, Fehler sind Auslöser«, pflichtete Professor Ritter besorgt bei.
»Da kommt wieder Williams Pingeligkeit ins Spiel«, hob Dr. Berger
hervor.
» Und, allerdings nur gelegentlich, wenn er
Ihre Filme sieht«, sagte Dr. von Rohr und sah Jack an.
»Hauptsächlich bestimmte Sätze«, fügte Professor Ritter hinzu.
»Meistens aber helfen ihm die Filme!« insistierte Dr. Krauer-Poppe.
»Manchmal dagegen –«, begann Dr. von Rohr.
»Nun ja…«, sagte Professor Ritter. »Ich finde, Jack sollte seinen Vater
sehen, ihn spielen hören, mit ihm reden –«
»In welcher Reihenfolge?« fragte Dr. Berger, vielleicht sarkastisch;
Jack konnte es nicht genau sagen.
Wieder gab Dr. Hubers Piepser Laut. Sie stand vom Tisch auf und ging
ans Telefon. Dr. Krauer-Poppe schlug die Hände vors Gesicht.
»Vielleicht sollten wir Jack ein wenig von Williams Tagesablauf
erzählen?« fragte Professor Ritter.
»Pingeligkeit hoch drei!« rief Dr. Horvath.
»Ihr Vater möchte jeden Tag im voraus wissen, was ansteht«, erklärte
Dr. von Rohr.
»Jede Stunde!« röhrte Dr. Horvath.
»Schildern Sie ihm einfach den Tagesablauf«, sagte Dr. Krauer-Poppe.
»Vielleicht hilft das ja.«
»Huber hier«, sagte Dr. Huber in den Hörer. »Ich komme sofort.« Sie
kam zum Tisch zurück. »Ein Notfall«, sagte sie zu [1065] Jack und schüttelte ihm
die Hand. »Noch ein Notfall.« Jack war aufgestanden, um ihr die Hand zu geben.
Alle anderen erhoben sich ebenfalls.
Jack und das Team abzüglich Dr. Huber schickten sich an, das
Besprechungszimmer zu verlassen. (Dr. Huber war blitzschnell verschwunden.)
»Aufstehen, heißes Wachs, Eiswasser, Frühstück –«, sagte Dr.
Horvath, während sie die Treppe hinuntermarschierten. Jack wurde klar, daß die
Aufzählung der Einzelheiten im Tagesablauf seines Vaters begonnen hatte.
»Unmittelbar nach dem Frühstück Fingerübungen in der
Gymnastikhalle«, erklärte Dr. Berger.
»Fingerübungen?« fragte Jack.
»William nennt das so, wenn er für die Tanzgruppe Klavier spielt. Er
trägt dann nämlich eine Augenbinde und spielt nur die Stücke, die er auswendig
kann«, sagte Dr. von Rohr.
»Wieso trägt er eine Augenbinde?« fragte Jack.
»In der Gymnastikhalle gibt es Spiegel«, sagte Professor Ritter.
»Viele Spiegel. William trägt dort immer die Augenbinde. Manchmal, nachts,
spielt er auch im Dunkeln.«
»Nach den
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