Bis in den Tod hinein
Herrn, das er ihm stets einsetzte, obwohl dieser es eigentlich gar nicht benötigte, reinigte Anselm zweimal täglich, dessen Brillengläser viermal so häufig. Anselm hatte sogar eigens zum Säubern der Brillengläser ein spezielles Ultraschall-Reinigungsgerät auf den Nachttisch seines Vaters gestellt. Kleidung und Bettwäsche von Paul Drexler waren zu jeder Zeit frisch gewaschen und gebügelt, und die Ohr- und Nasenhaare ebenso getrimmt wie der Schnurrbart, den er seit Jahrzehnten trug.
Hinzu kam die penible Ordnung des Hauses selbst. Jedes der alten Ölgemälde, die in symmetrischem Abstand zueinander an den Wänden des Hauses hingen, war mit einer jeweils eigens dafür installierten Lampe ausgeleuchtet. Einmal war Cecilia im Haus gewesen, als eine dieser Lampen ausgefallen war. Anselm war unverzüglich in den Keller gegangen, um die defekte Beleuchtung aus dem gewaltigen Fundus an gelagerten Leuchtmitteln auszutauschen. Dabei musste er aber zu seinem Entsetzen feststellen, dass keine entsprechende Glühlampe mehr vorhanden war. Kurz entschlossen hatte er zur Wahrung der Symmetrie sämtliche Lampen über den Gemälden aus dem Erbe der Drexlers abgeschaltet und war unverzüglich in den Supermarkt gefahren, um neue Leuchtmittel zu besorgen. Erst nachdem er die defekte Lampe ausgetauscht hatte, schaltete er schließlich auch die anderen wieder ein.
Wie jedes Mal hatte Schwester Cecilia auch an diesem Abend den Schlauch der Magensonde kontrolliert, die man Paul Drexler noch in der Klinik gelegt hatte, um ihn darüber zu ernähren. Dann hatte sie die Beutel mit den Ausscheidungen des alten Herrn gewechselt, die mit Haken an seinem Bettgestell befestigt waren. Im Anschluss daran hatte sie ihn geduldig gewaschen und rasiert.
» Was ist bloß in diesem Haus vorgefallen?«, fragte sie ihren Patienten, dessen Blick starr, aber nicht leer in den Raum fiel. » Was hat Ihren Sohn zu dem gemacht, was er heute ist?«
Schwester Cecilia verrieb mit sanften Bewegungen das Aftershave auf der Gesichtshaut von Paul Drexler, während sie dabei mit einem wissenden Blick in sich hinein schmunzelte. Sie war sich im Klaren darüber, dass Paul Drexler jedes ihrer Worte verstehen und jede ihrer Berührungen spüren konnte, als sie hinzufügte: » Was würde ich darum geben zu wissen, was mir diese alten Mauern erzählen könnten…«
43
» Ist er vernehmungsfähig?«, fragte Boesherz nüchtern, nachdem er und Linda Bartholy am darauf folgenden Morgen den diensthabenden Stationsarzt des Verbrennungszentrums im Unfallkrankenhaus Berlin begrüßt hatten.
Boesherz hatte am Vorabend noch lange mit Bartholy in dem Restaurant gesessen, geplaudert und Wein getrunken. Erst spät hatte er schließlich doch von den Geschehnissen der vergangenen Nacht erfahren. Da Steve Moldenhauer nach seiner Notoperation ohnehin nicht früher ansprechbar sein würde, hatte Boesherz wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf bekommen, bevor er gemeinsam mit Bartholy in die Klinik gefahren war.
» Er ist jetzt wach, aber mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Also bitte nur kurz!«, erhielt der Kommissar zur Antwort. » Wir mussten ihm beide Unterarme amputieren.«
Die drei bewegten sich während ihrer Unterredung zügig auf das Zimmer zu, in dem Steve Moldenhauer untergebracht war.
» Ich habe so einen Fall in meiner ganzen Laufbahn erst ein einziges Mal erlebt«, berichtete der Arzt angeschlagen. » Damals hat sich ein Mann absichtlich die Unterschenkel erfroren. Der Fall war fast identisch. Er hatte seine Beine so lange in Eiswasser getaucht, bis sie blau waren. Und auch in dem Fall mussten wir amputieren.«
» Warum hat dieser Mann das denn getan?«, interessierte sich Bartholy. » War da auch Gewalt im Spiel?«
» Nein, er litt unter BIID , das steht für Body Integrity Identity Disorder. Eine sehr seltene neurologische Erkrankung. Die Patienten akzeptieren bestimmte Teile ihres Körpers nicht. Sie sehnen sich danach, diese Körperteile loszuwerden.«
» Davon habe ich mal gehört«, erinnerte sich Bartholy jetzt. » Ein Amerikaner hat sich in Mexiko das Bein von einem Arzt abnehmen lassen, weil er es nicht als Teil seines Körpers akzeptiert hat.«
» Das halte ich für möglich«, gab der Arzt betroffen zu. » Selbstverständlich sind solche Amputationen streng verboten. Deswegen hat sich dieser Mann vermutlich auch einen bestechlichen Quacksalber dafür gesucht.«
» Wie auch immer, es gibt einen großen Unterschied zu unserem Fall«, kam Boesherz auf das
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