Bis zum Hals
mich weiter hoch, durch immer dünnere Luft und schwindende Sicht, bis ich oben, am Gipfel, durch die Tür fiel.
Als ich wieder halbwegs bei Atem und Bewusstsein war, fand ich mich praktischerweise in Scuzzis Schreibtischsessel wieder. Das Schlafbedürfnis war drauf und dran, mich mit sich zu reißen, runter aufs Kissen und rein in die süße Verantwortungslosigkeit der Ohnmacht, doch es gibt ja Mittel, dem Einhalt zu gebieten. Mittel und Pülverchen. Ich zog eine von Scuzzis Schubladen auf. Dicht an dicht ruhten die Klarsichtbeutel. Ich nahm einen davon hoch. Zögerte.
Seit dem Unfall, ging mir durchs Hirn, seit Dimitrijs Ermordung hatte ich bei all meinen Handlungen noch nicht ein einziges Mal das Gefühl wirklicher Kontrolle, noch nicht einmal die Gewissheit, aus freien Stücken zu agieren, und vor allem nie die innere Überzeugung gehabt, gerade das Richtige zu tun.
Kritisch hielt ich den Beutel ins Licht.
Ich sollte unbedingt etwas essen, sagte ich mir, dann zwölf Stunden schlafen und dann weitersehen. Aufgaben delegieren, meine Kräfte schonen, der Vernunft gehorchen. Das Richtige tun, für einmal. Essen, schlafen, weitersehen.
Die erste Line war weg, ohne dass ich vom Rauslöffeln, Kleinhacken, Zurechtschieben und Reinschnorcheln viel mitbekommen hätte.
Kaum hatte die kalte Bitternis ihren Weg meinen Rachen hinab gefunden, wählte ich die Nummer von Heckenpennes.
»Klar hab ich’s. Du bist bei Scuzzi, oder? ’kay, dann mail ich’s dir rüber. Und du denkst an mich.«
»Wird gemacht. Und danke.«
»Bis denn.«
Während sich der Rechner zur Arbeit aufschwang, zog ich mir die zweite Line weg und spürte meine Äuglein aufgehen und leuchten. Wie die Sterne am Firmament. Voll fit, hellwach, praktisch beschwerdefrei, wie genesen, ertappte ich mich dabei, direkt schon wieder nach Scuzzis Fuselregal zu schielen.
Da kam die Mail, samt Anhang. Darin lange Listen. Ich ließ den Drucker rattern, nahm die Blätter zur Hand, sah sie durch. Rufnummern und Verbindungsdauer, Kosten in Cent und Euro, alles sauber untereinander. Aus naheliegenden Gründen nahm ich mir Dimitrijs Todestag als Erstes vor. Mit wem hatte er zuletzt telefoniert? Es war eine Mülheimer Festnetznummer, und sie kam mir irgendwie bekannt vor. Einfachste Methode: Anrufen.
Besetzt.
Ich wählte Tinas Nummer, nur mal fragen, ob alles okay ist, paar Worte mit Anoushka wechseln, ihre Stimme hören, sie daran erinnern, dass es mich gab, dass ich mich kümmerte.
Anrufbeantworter.
Da weiß ich nie, was ich sagen soll, nicht mal mit Putschpulver im Blut.
Also versuchte ich es direkt, über Dimitrijs Handy.
Mailbox.
So ganz allmählich verließ mich meine Geduld mit der Telekommunikation und auch die mit der Weiblichkeit.
War Tina vielleicht arbeiten? Mit einer Hand hackte ich mir noch eine Line, mit der andern scrollte ich durch Scuzzis Telefonregister. Ich wusste, er hatte die Nummer vom Lollipop – gute Kunden für alles, was hart macht und ausdauernd, diese Vögel – fand sie und stutzte. Bis auf die Endziffer war sie identisch mit der Nummer, die Dimitrij zuletzt in seinem Leben angewählt hatte. Und davor schon vier-, fünfmal. Diese verlogenen kleinen Schwuchteln! Zwei Minuten später saß ich unten in einem Taxi und feuerte den Fahrer an.
Kokain fördert nicht unbedingt meine Besonnenheit. Kellner Kevin jedenfalls wirkte leicht traumatisiert, bis man Tina endlich aus ihrer Küche geholt hatte, um ihn zu erlösen.
Ich erklärte ihr die Sache mit der Telefonnummer, fuchtelte mit dem Computerausdruck und äußerte auch meinen Verdacht, hier ganz erheblich belogen worden zu sein, von wegen, Dimitrij kennt hier niemand und so weiter, und ich wollte schon hinter Kevin her und ihn mir noch mal krallen, als Tina mir den Ausdruck abnahm, die Nummern verglich und mich mit festem Griff an der Schulter zum Zuhören zwang.
Die Rufnummer gehörte nicht zum Lokal.
Sondern zum Büro.
Von Besitzer Deckart.
Im Keller des Gebäudes.
Seitlicher Eingang.
Ah so.
»Wie geht es Anoushka?«, fragte ich noch, nun sanft zum Ausgang eskortiert.
Anoushka schlief schon, als Tina das Haus verließ. Aus irgendeinem Grund beruhigte mich der Gedanke. Zumindest bis Tina »das arme Schätzeken« hinterherschickte.
»Wie meinst du das?«
»Na, hast du sie noch nie … ›al fresco‹ … gesehen?«
Hä?, dachte ich. Im Frischen? Dann dämmerte es mir. Diese fette Transe hatte … während ich bisher höchstens mal an Anoushkas Haar schnuppern
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