Bismarck 01
kund. Das Gewissen mag man als Fühler ausstrecken, doch jedes Gewissen ist verschieden je nach der sonstigen Anlage. Es gibt so robuste Gewissen, daß sie alle zehn Gebote übertreten und sich nichts daraus machen. Die Bibel sagt, Eva habe vom Baum der Erkenntnis gegessen, und das sei nicht der Baum des Lebens. Das ist aber Mythe auch im symbolischen Sinne, denn Erkenntnis liegt überhaupt außer jedem Bereich des Menschen.«
»Dafür tritt die göttliche Offenbarung der Evangelien ein«, rief der Fromme mit rührender Begeisterung. »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen; hast du Herzensfrieden bei deiner trostlosen Ansicht? Fand ich dich nicht oft niedergeschlagen und melancholisch? Warum, da dir doch sonst nichts fehlt?«
»Nichts als ein zweckloses Dasein«, gestand Otto düster. »Was ist man denn? Ein bißchen aufgewirbelter Staub unter dem Wagen der Schöpfung, der unablässig weiterrollt.«
»Ich will jetzt nicht mit dir streiten, denn ich schöpfe gute Hoffnung, weil du deinen eigenen verzweifelten Seelenzustand nicht leugnest. Fährst du das nächste mal von Kniephof in die Nachbarschaft, dann mußt du in andere Kreise kommen als die, wo du bisher verkehrtest. Ich führe dich bei Thadden-Trieglaff ein, bei Puttkamers auf Reinfeld und anderen guten Häusern. Da wirst du Christen finden, die nach Gottes Wort leben, an denen du Stab und Stütze finden sollst.«
»Ach, das sind ja Pietisten!«
»Warum nicht gar! Bei uns herrschen Fröhlichkeit und Herzlichkeit, Wohlwollen und Menschenliebe.«
»Also gut, führe mich hin, und Gott sei mir armem Sünder gnädig!« –
*
Herr v. Thadden, ein älterer Mann von würdevollem Aussehen, empfing ihn sehr freundlich: »Moritz hat uns so viel Merkwürdiges von Ihnen erzählt, mein werter Herr v. Bismarck. Wir sind alle darauf gespannt, Ihnen näher zu treten.« Er stellte ihn den Damen des Hauses und einigen Bekannten vor mit dem Hinweis: »Herr Deichhauptmann v. Bismarck waltet in der Altmark seines Amtes mit besonderer Pflichttreue. Alle sind seines Lobes voll.«
Nachdem das Eis gebrochen, fühlte sich Otto sehr behaglich. Eine wohltuende Wärme ging von den Herren und Damen dieses Kreises aus, auch ein anwesender Pastor benahm sich nichts weniger als muckerhaft. Bei einem zweiten Besuch verstärkte sich noch der angenehme Eindruck. »Das ist ja wirklich eine Freude, lieber Herr Nachbar«, rief Herr v. Thadden. »Wir dürfen dies für ein Zeichen nehmen, daß es Ihnen gut bei uns gefallen hat.Darf ich Sie mit lieben Freunden bekannt machen? Herr v. Puttkamer-Reinfeld und Fräulein Johanna v. Puttkamer.« Bismarck kannte die Herrschaften schon von früher her sehr flüchtig, ohne daß ihm eine besondere Erinnerung haften geblieben wäre. Diesmal aber gefielen ihm der freundliche und joviale ältere Mann und die bei würdevoller Ruhe doch lebhafte Tochter ausnehmend. Daß diese altpommerschen Adelsfamilien noch lebten wie in der guten alten Zeit, sozusagen das Kirchengesangbuch in der Tasche, erschien nichts weniger als lächerlich, da es sich mit so würdiger menschenfreundlicher Haltung und Gesinnung paarte, sondern im Gegenteil als vornehm angesichts der zunehmenden materialistischen Verflachung und Verseuchung. Er schied wieder mit wohltuender Anregung, und dabei blieb es, als ein fernerer Verkehr mit dem ganzen Kreise sich entspann, zu welchen auch besonders Marie v. Blanckenburg auf Cardemin gehörte, nächste Freundin der Puttkamers, die ein schwesterliches Wohlwollen für ihn faßte und zu der er viel Vertrauen gewann. Alle, ohne je den wunden Punkt zu berühren, wo ihre seelischen Wege sich trennten, schienen ihn als ein verirrtes Schäflein zu schonen, das schon durch Gottes Fügung auf den rechten Weg geraten werde.
Die Güter Blanckenburgs, Cardemin und Zimmerhausen, und die Puttkamers, Reinfeld und Koglizow, lagen so nahe, daß man sich an diesen verschiedenen Orten mehrmals traf. Frau Marie v. Blanckenburg teilte die Vorliebe ihres Gatten für den wilden Kniephofer und widmete ihm eine reine Zuneigung. Er hing sehr an diesem trefflichen Ehepaar, so verschieden die geistigen Grenzen. Die Nachbarschaft des Gemütes verschiebt diese Grenzen liebevoll. Überall sang man das Lob von Fräulein Johanna v. Puttkamer, die eine erwärmende Herzensgüte besaß. Sie war nichts weniger als eine Schönheit, ihr Mund etwas zu breit, ihre Nase ziemlich unregelmäßig, an der Spitze zu fleischig. Doch das Oval ihres Kopfes mit etwas zu großen Ohren hatte
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