Bisswunden
einen Komplizen, doch er ist nicht immer männlich. Was in unserem Fall gegen eine Frau als Täterin spricht, das ist die Art des Verbrechens. Die meisten Serientäterinnen sind so genannte ›Schwarze Witwen‹, die ihre Ehemänner umbringen, oder ›Todesengel‹, die Krankenhauspatienten ermorden. Häufig handelt es sich bei den Opfern um Familienangehörige. Es gibt in der Literatur nur einen einzigen Fall von einer weiblichen Serientäterin, die sexuell motiviert gemordet hat, mit Fremden als Opfern und ohne jeden Komplizen. Aileen Wuornos.«
Seans Blick zeigt eine unterschwellige Selbstgefälligkeit.
»Aber ich denke, sie wurde falsch klassifiziert«, fahre ich fort. »Aileen Wuornos hat gemordet, weil sie Männer dafür bestrafen wollte, dass sie von ihnen sexuell missbraucht wurde. Das Gleiche könnte für eine von Nathan Maliks Patientinnen gelten.«
»Ich sage nicht, dass es unmöglich ist«, antwort Sean. »Allerdings spricht die Art und Weise der Ausführung dagegen. Die Präzision des Schützen, das nackte Opfer, die Folter …«
»Rache«, entgegne ich. »Es gibt nur eine sehr kurze Abkühlphase bei Rachemorden, und das passt zu diesem Fall. Die Bisse wurden den Opfern nach dem ersten Schuss ins Rückenmark zugefügt, das ist so gut wie sicher. Eine Frau muss ihr Opfer bewegungsunfähig machen, bevor sie nahe genug herankommt, um so zuzubeißen.«
»Glaubst du tatsächlich, dass eine Frau diese Männer mit den Zähnen zerrissen hat?«
Ich hatte selbst schon so manches Mal ziemlich gewalttätige Vorstellungen. »Eine sexuell missbrauchte Frau schleppt wahrscheinlich eine Menge unterdrückter Wut mit sich herum, Sean.«
»Ja, aber bei Frauen ist die Wut in der Regel nach innen gerichtet. Deshalb begehen sie Selbstmord, nicht Mord.«
Damit hat er natürlich Recht. »Was ist mit Colonel Morelands Tochter, Stacey Lorio? Sie ist die Tochter eines Armeeangehörigen und macht einen ziemlich harten Eindruck. Du sagst, sie hätte Alibis für alle Morde?«
»Ja. Ausnahmslos überprüft und bestätigt. Zweimal war sie mit Freunden zusammen, zweimal mit ihrem Exmann. Er mag sie zwar nicht mehr lieben, doch er hat ihr Alibi bestätigt. Ich habe selbst mit ihm geredet. Er sagte wortwörtlich: ›Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich kann dieses Miststück nicht mehr ausstehen, aber hin und wieder vögele ich noch ganz gerne mit ihr.‹«
»Hört sich wirklich großartig an.« Frustration erweckt in mir das Bedürfnis nach Alkohol. »Also gut, dann eben ein männlicher Patient von Malik. Jemand, der als Junge missbraucht wurde. Ein hoher Prozentsatz aller Serientäter wurde im Kindesalter sexuell missbraucht.«
»Jetzt kommen wir der Sache näher«, sagt Sean und wird munter. »Sobald wir die Patientenliste in den Händen halten, mache ich mich an die Arbeit.« Er beugt sich vor und streckt sich, und seine Rückenwirbel knacken wie chinesische Feuerwerkskörper. »Sollen wir eine Pause machen?«
Ich spanne mich innerlich an. Normalerweise würden wir bei einer Gelegenheit wie dieser, wo wir längere Zeit allein miteinander sind, einen Großteil der Zeit im Bett verbringen. Doch heute ist die Schlafzimmertür geschlossen, und so wird es auch bleiben.
Meine Augen scheinen meine Gedanken zu verraten, weil Sean hastig hinzufügt: »Ich dachte daran, dass ich rüber zu R and O laufe und uns zwei Portionen Austern hole.«
Ich entspanne mich ein wenig.
»Ich bin in zwanzig Minuten zurück.«
»Hör mal, du musst nicht den ganzen Tag hier bleiben. Ich möchte Maliks Buch lesen.«
Sean blickt mich in ruhiger Ernsthaftigkeit an. »Ich möchte aber bleiben. Fall du es auch möchtest, heißt das.«
Ich kann nicht anders, ich muss lächeln. »Okay. Warum gehst du dann nicht das Essen holen?«
Er nimmt seine Schlüssel und geht nach draußen in die Garage. Kein Kuss, nur ein flüchtiges Streicheln am Unterarm.
Ich gehe ins Schlafzimmer, streife die wodkagetränkten Laken vom Bett und bringe sie zur Waschmaschine. Der Alkoholdunst, der aus der Baumwolle aufsteigt, reicht aus, um jede Zelle meines Körpers mit Verlangen zu erfüllen. Meine Gedanken schweifen zum Valium in meiner Handtasche, doch es ist an der Zeit, auch damit aufzuhören. Ein Geburtsfehler ist nicht gerade das erste Geschenk, das ich dem in mir heranwachsenden Baby machen möchte.
Um mich von meinem Verlangen abzulenken – als wäre das überhaupt möglich –, kehre ich an den Küchentisch zurück und nehme Nathan Maliks Buch zur Hand, das Sean
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