Bittersüßes 7. Jahr
Bornemeyer war man eine Null. Aber ein bißchen brauner Teint, ein Menjoubärtchen und die Haltung eines Menschen, dem Geld nur Ballast bedeutet – und die Welt liegt auf dem Bauch.
Der Schnellzug nach Emden lief ein. Ermano Ferro stieg in ein Abteil der 1. Klasse. Vorher hatte er auf dem Bahnsteig an einem Wagen eine Tüte mit Weintrauben gekauft. Der Schaffner des Wagens trug ihm die Tüte nach ins Abteil. Der Kellner stellte ihm nach einem fachkundigen Blick unaufgefordert eine Reiseflasche Chianti auf das Fenstertablett. Es war fast verwunderlich, daß sein Schlafwagenabteil nicht bekränzt war.
Draußen auf dem Bahnsteig leuchtete das grüne Schild des Aufsichtsbeamten auf. Sein Pfeifsignal durchschnitt die helle Sommernacht.
»Sitzen Sie bequem?« fragte der Schlafwagen-Schaffner besorgt. Ermano Ferro nickte.
Weich fuhr der Zug an.
Die Lichter Düsseldorfs versanken in der Nacht. Die rheinische Tiefebene öffnete sich.
Wie eine leuchtende Schlange raste der Zug dem fernen Meer entgegen.
Ermano Ferro lehnte sich zurück, trank einen Schluck Chianti und fühlte zögernd, ob sich der Schnurrbart nicht verschoben hatte.
Er fuhr einem Abenteuer entgegen, von dem der kleine Assessor Bornemeyer vor zehn Stunden nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Wie eine riesige, blankpolierte Muschel liegt die Insel im Meer.
Lang und groß sind die Wellen, die ihre Nord- und Südseite umbranden, denn sie kommen aus der Weite des Atlantik. Unzählbar sind die Vögel und Möwen, die um die Spitze Hoge Hörn im Osten kreischen; schaurig und erregend sind die Sagen um die Wolde-Dünen, wo Störtebeker, der größte Seeräuber in deutschen Gewässern, seinen heimlichen Ruheplatz erwählte.
Der Leuchtturm mit seinem Zaun aus Walfischkinnladen leuchtet weit über die See. Wie träumende Schwäne gleiten die Segeljachten durch die blaue Wasserschlange von Tüßkendoerkill. Durch die Dünen, zum Muschelfeld hin, vorbei am Jägerheim und Sturmeck jagt die Kavalkade übermütiger Reiter. Auf den algengrünen, glitschigen Steinen der Buhnen hocken die Angler. Auf den Riffen und Sandbänken sonnen sich träge die grauen Leiber der Seehunde. Musik klingt aus den großen, weißen Hotels über die viertausend Meter lange Strandpromenade.
Es ist schon ein herrliches Stückchen Erde, aber von all dem sieht man wenig, wenn das Schiff im Hafen anlegt. Auch der Bäderdampfer ›Frisia‹ mit seinen wie schwarze Trauben auf dem Deck zusammengeballten und zur Insel hinüberstarrenden Passagieren erfüllte nur teilweise die Erwartungen der neuen Kurgäste. Von ferne hatten sie die Hotelpaläste gesehen, jetzt waren es nur Dünen und kleinere Häuser, eine schmucke Inselbahn und Fischerboote mit eingerollten Segeln, wie sie zu Hunderten auch im Hafen von Emden lagen.
Über die Gangway schritt Sabine Sacher auf die Insel. Sie hatte sich auf dem Schiff umgezogen. In einem weißen, tief ausgeschnittenen Leinenkleid mit weißen flachen Schuhen, die schwarzen Haare mit einem Seidenband zusammengebunden und aus der Stirn hinausgehoben, so daß sie wie eine Krone um den Kopf lagen, sah sie unternehmungslustig und appetitlich jung aus.
An Land sah sie sich ein wenig hilflos um. Ihre Koffer wurden von einem Steward auf das Pflaster gesetzt, ein Heer von Gepäckträgern machte Jagd auf Kunden. Hotelboys mit Schildern ihrer Hotels wanderten an der Mole hin und her und sammelten ihre Gäste zu einem Häuflein. Die ersten Bekanntschaften wurden geschlossen. Die Erwartungsfreude machte freudig und redselig.
Von der Pension ›Seeadler‹ war niemand gekommen. Sabine wartete, bis alle Gepäckträger und Boys besetzt waren, dann nahm sie ihre Koffer selbst und schleppte sie zum kleinen Bahnhof der Inselbahn, die bereits zum zweitenmal pfiff und zum Einsteigen aufforderte.
Eine Gruppe Pfadfinder zog mit Lauten und Harmonikas an ihr vorbei. Vor einem der Inselbahnwagen küßte sich ein Ehepaar. Der Ehemann war gerade angekommen. Zwei Kinder, braun wie Mulatten, kamen herbeigelaufen und brüllten »Vati! Vati! Vati!« Überall war Glück und Freude, nur sie war allein.
Bevor Sabine Sacher in die Inselbahn stieg, sah sie zurück zum Schiff. Postwagen und Pferdefuhrwerke waren herangefahren, die Rückladung wurde hineingetragen.
Umkehren, war ihr Gedanke. Mit dem gleichen Schiff zurück zur Küste und von dort nach Düsseldorf. Was sollte sie hier allein unter glücklichen Menschen? Niemand kannte sie, wie ausgestoßen stand sie abseits. Im ›Seeadler‹
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