Black Box
dunkelroten Muttermal im Gesicht, das wie eine riesige Pfeilspitze aussah. Es zog sich von der Stirn über die rechte Augenhöhle, ein Dreieck mit der Spitze nach unten. Es sah aus, als wäre sie mit einem blauen Auge geboren worden, das nicht verheilte. Da sie meist mürrisch und argwöhnisch war, schien ein blaues Auge gut zu ihr zu passen.
Jubal hätte gern mit Linda gesprochen, ohne dass Tess dabei war. Wenn Linda zu ihm nach draußen kam, würde es ihm vielleicht gelingen, sie freundlich zu stimmen. Drinnen wäre alles gegen ihn: Tess’ Stricknadeln, die im Hintergrund klapperten, die alte, fleckige Tapete, die sich von der Wand löste, und das grelle Licht der nackten Glühbirne.
Jubal überlegte sich gerade, was er Linda sagen sollte, wenn sie ihm die Tür aufmacht, als er eine Bewegung wahrnahm: Im Vorgarten des Hauses, nur wenige Meter von ihm entfernt, löste sich eine Gestalt aus dem Schnee. Jubal zuckte hinter dem Steuer zusammen. Es war ein Kind in einer dicken Jacke, das an den Händen Fausthandschuhe trug. Es hatte im Schnee gelegen und Arme und Beine in einem weiten Bogen hin- und herbewegt, um einen Schneeengel zu machen. Ganz in der Nähe entdeckte Jubal auch eine Pyramide aus Schneebällen, einen Schneemann mit einem Strohhut und eine niedrige Ulme, um die eine Schneefestung gebaut war. Da mussten mehrere Kinder am Werk gewesen sein. Aber das Mädchen in der schweren Jacke war allein.
Mit heftig klopfendem Herzen kurbelte er das Fenster herunter. Als er seine Tochter das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch nicht vier Jahre alt gewesen. Weil sie mit dem Rücken zum Haus stand und von hinten beleuchtet war, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen.
»Hallo, Kleine«, sagte er. »Ist das hier der Hof der Hakeswells?«
Das Mädchen stand auf und klopfte sich das Hinterteil ab. Sie trat vorsichtig aus ihrem Engel heraus und griff nach einem Schneeball. Jubal fragte sich, ob er jetzt gleich unter Beschuss genommen werden sollte. Vielleicht hatte Kelly so schlecht über ihn geredet, dass seine Tochter nicht einmal Hallo zu ihm sagen würde. Aber Kelly kaute nur ein bisschen an dem Schneeball herum und kam langsam zu ihm herüber. Einen guten Meter vor dem International blieb sie stehen.
»Zu wem wollen Sie?«, fragte sie.
»Ich bin auf der Suche nach meiner kleinen Tochter. Ich hab gehört, dass sie gern Schlitten fährt, und da hab ich mir das Wochenende freigenommen.«
Ihr Atem stieg weiß und kalt von ihren Lippen auf. Die Hand mit dem Schneeball sank herab.
»Als ich das letzte Mal hier oben war, warst du noch ziemlich klein. Du hast mich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Kannst du dich überhaupt noch an deinen alten Herrn erinnern? Hast du mein Gesicht vergessen?«
Sie antwortete nicht.
»Na gut. Jedenfalls habe ich nun diesen Wagen, und deshalb kann ich jetzt öfter mal vorbeischauen. Es tut mir leid, dass so viel Zeit vergangen ist.« Er hatte nicht damit gerechnet, zuerst mit Kelly zu sprechen, und war deshalb auf diese Unterhaltung nicht gefasst gewesen – wenn es denn überhaupt eine Unterhaltung war. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, seit er sich vorgestellt hatte. »Gefällt dir der Wagen?«
Sie blickte zum Haus zurück. »Ich hol jetzt lieber Mom.«
»Ich hab einen Brief geschickt, dass ich komme. Hat dir das deine Mom nicht erzählt?«
Sie starrte ihn an.
»Und? Hat sie das?«
Kelly wandte sich wieder dem Haus zu.
Er konnte später noch darüber nachdenken, warum Linda ihrer Tochter nicht erzählt hatte, dass er kommen würde. »Magst du es nicht, dass ich jetzt da bin?« Jubal lächelte, um seiner Frage die Schärfe zu nehmen. Dann hob er die Hände mit den Handflächen nach oben, so als würde er sich ergeben. »Willst du den Schneeball in deiner Hand nach mir werfen? Mach ruhig. Ich könnte es dir nicht verübeln.«
»Ich geh jetzt Mom holen.«
»Kelly«, sagte er und erschrak über sich selbst – so verzweifelt hatte er noch nie geklungen.
Sie drehte sich um und rannte über den Rasen, doch bevor sie die Treppe zur Veranda erreichte, ging die Tür auf. In dem gelben Rechteck der Fliegengittertür zeichneten sich die Umrisse zweier Frauen ab. Kelly stapfte zu ihnen hinüber und blieb vor der Fliegengittertür stehen. Jubal sah, wie seine Tochter den Arm hob und mit ihrem Fäustling auf den Lieferwagen deutete. Die Fliegengittertür ging auf, eine Frau legte Kelly die Hand auf den Kopf und schob sie ins Haus. Dann trat die Frau auf die Veranda hinaus,
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