Black Swan - Silberner Fluch
standen. Tief unter mir sah ich die aufgewühlten Fluten des Hudson River.
»Mach schon, Garet«, flüsterten die drei Männer wie aus einem Mund. »Spring!«
Mit angehaltenem Atem wartete ich, ob sie mich herunterstoßen würden, aber nichts geschah. So viel Kraft besaßen sie nicht – noch nicht. Sie bestanden aus Luft und Wasser, und wie mir plötzlich einfiel, hatte ich Macht über beides. Ich wandte mich um und sah sie an. »Ihr seid nur Wasser«, sagte ich laut. Die Gestalten wurden grau und begannen in der Luft zu schwanken. Dann hob ich beide Arme – so wie ich es bei Ariel gesehen hatte, als sie den Sturm herbeirief – und horchte auf das Lied des Windes. Ich fühlte, wie er über die High Bridge strich und das Wasser unter mir berührte, wie er in den Spalten zwischen den Steinen hauchte und flüsterte. Dann fuhr er wie ein Güterzug durch den Tunnel und hob mich kurzzeitig von den Füßen. Die Umrisse der drei Nebelmänner lösten sich auf, bis nur noch ein kleiner Dunstfaden blieb, den der Wind aus der anderen Seite des Tunnels hinausblies.
»Danke«, sagte ich laut.
Ein Seufzen regte die Luft, dann war es vorbei. Stattdessen hörte ich meinen Namen.
»Garet? Bist du da?« Es war Will.
»Ich bin hier«, erwiderte ich. Schließlich sah ich ihn aus dem Dunkel treten, das Gesicht blass und angespannt, aber offenbar unverletzt. Der Nebel war verschwunden. Es war der echte Will.
»Gott sei Dank!«, sagte er und zog mich in seine Arme. »Ich fürchtete schon, ich hätte dich verloren.«
»Es war der Nebel. Er hat mich schreckliche Dinge sehen lassen, aber nun ist er weg.«
»Nicht für lange«, sagte Will, hielt mich auf Armeslänge von sich und deutete zur Bronx-Seite des Tunnels, wo sich eine Nebelbank erstreckte, die sich wie eine zusammengerollte Schlange hin und her wand. »Wir sollten uns beeilen.«
Am Ende der Brücke lag auch hier eine Schleusenkammer, die wir durchschreiten mussten, um das Fundament des Turmes zu erreichen. Ohne Nebel konnten wir uns leichter zurechtfinden, aber es war dennoch ein sehr schwieriger Abstieg. Meine Beine zitterten, als wir ihn hinter uns hatten. Kurz lehnte ich mich gegen die Ziegelmauer, um etwas Atem zu schöpfen, und als ich dann nach oben sah, erblickte ich eine Wendeltreppe aus Locheisenblechen, die sich so weit in die Höhe reckte, wie das Auge reichte.
Hinter einer der Windungen befand sich eine schmale, vertikale Öffnung in der Wand, die wie eine der Schießscharten aussah, durch die im Mittelalter die Bogenschützen ihre Pfeile abschossen. Es war ein gedämpftes, orangefarbenes und gelbes Glühen zu erkennen, das mich verwunderte, daher trat ich ein paar Schritte näher, und als ich sah, woher der seltsame Schein stammte, zog ich scharf
die Luft ein. Das unverglaste Fenster blickte auf einen Wohnblock, und zwei Gebäude am Ende der Straße standen in Flammen. Mir schauderte bei dem Gedanken, wie viele funkenübersäte Tentakel sich durch die Stadt winden mochten und wie viel von der Stadt schon in Schutt und Asche liegen würde, wenn es uns endlich gelang, Dee zu überwinden, aber es gab keinen anderen Weg, als es zu versuchen. Als ich mich wieder zu Will umwandte, der selbst genug eigene Sorgen hatte, tat ich so, als sei ich von dem hellen, bernsteinfarbenen Licht abgelenkt gewesen, das zäh wie Honig von der Spitze des Turmes floss.
»Immerhin liegt hier kein Dunst«, sagte ich zu Will.
Er nickte, aber ich bemerkte, dass er erschöpft wirkte. »Hast du heute Nacht schon Nahrung gefunden?«, fragte ich. »Ich dachte, deswegen seiest du vielleicht unterwegs gewesen, bevor du zu mir kamst.«
»Dein Ruf hat mich davon abgebracht«, sagte er.
»Kann ich dir …«
Er winkte ab. »Du brauchst deine Kraft. Hier in diesem Turm ist etwas, das Energie abzieht. Fühlst du das nicht?«
Nun, da er es aussprach, merkte ich es auch. Es war, als ob die Schwerkraft sich hier stärker bemerkbar machte als sonst und einen Druck ausübte, der uns beinahe zu Boden gehen ließ. Ich musste mich am Eisengeländer der Treppe festhalten, um mich auf die erste Stufe zu ziehen. Sobald meine Füße das Eisenblech berührten, fühlte ich die Spannung – eine elektrische Ladung, die mit der Wucht eines Dreißigtonners gegen meinen Körper prallte.
»Wow«, sagte ich und sank auf die Knie. »Was ist das ?«
»Dee hat eine Energiespirale aufgebaut. Die Treppe bietet die perfekte Möglichkeit dazu. Damit treibt er auch
den Nebel in die Stadt – sie funktioniert wie ein
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