Black Swan - Silberner Fluch
tröstende Stimme meiner Mutter heraufzubeschwören und die hässliche Pessimistin zu verjagen, die sich meines Gehirns bemächtigt zu haben schien. Nichts passiert.
Ich trocknete meine Augen, blinzelte die Tränen weg … und sah, dass ich vor einer Glastür stand, auf der im Sonnenlicht goldene Fünkchen tanzten. Sie wirkte vertraut. Als ich vor den Eingang trat, ließ ich meine Finger wieder über die Überreste der goldenen Schrift gleiten und las Kunst … Das war mir gestern schon aufgefallen, und jetzt ging mir kurz der Gedanke durch den Kopf, ob statt einer Kunsthandlung vielleicht irgendetwas mit Scheidekunst, der Alchemie, gemeint gewesen sein könnte. Aber so oder so, ich hatte den Laden wiedergefunden.
Die Glastür schien über Nacht eine dicke Schicht Staub und Dreck angesetzt zu haben, und ich spähte vergebens durch das Glas. Dann versuchte ich, etwas von dem Schmutz wegzureiben und entdeckte dabei weitere goldene Buchstaben. Ein L, ein U, ein F und ein T standen beieinander, dann folgte ein Kaufmanns-Und. Nun sah ich auch, dass der erste Buchstabe des nächsten Wortes ein D war und kein K. Luft & Dunst . Nichts und nichts. Man hätte glauben können, die Worte wollten mich verspotten. Als ich eine kleine Stelle sauber gerieben hatte, blickte ich
wieder ins Ladeninnere, aber immer noch blieb alles grau. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass in dem Laden selbst alles grau war. Zwar standen dort noch derselbe geschwungene Art-Nouveau-Tresen und die Glasvitrinen, aber sie waren zerschlagen und von einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Damastvorhang hinter dem Verkaufsraum war stockfleckig und fadenscheinig und von Spinnweben bedeckt. Der Boden war von einer glatten Decke grauen Sands überzogen, die vollkommen unberührt war. Es sah aus, als sei seit Jahren niemand mehr in diesem Geschäft gewesen.
Ich starrte durch die Ladentür, bis eine Stimme von der Straße meine Aufmerksamkeit erregte: »… und dann gibt es Tee und Kuchen und dann gehen wir und schauen uns die kleinen Hündchen im Fenster an und dann holen wir Daddys Kleider aus der Reinigung …«
Die Stimme kam von einer jungen Frau, die einen Buggy mit einem Kleinkind vor sich herschob. Das kleine Mädchen, vermutlich zwischen zwei und drei Jahren alt, trug einen Häkelpullover in Helllila und Oliv über einem karierten Oberteil und grellrosa Strumpfhosen. Sie winkte mit einer Puppe, die aus demselben Garn gehäkelt worden war wie ihr Pullover.
»Entschuldigung«, rief ich, aber die Mutter schien mich nicht zu hören.
»… und dann gehen wir nach Hause und machen ein kleines Schläfchen …«
Als ich aus dem Ladeneingang trat, stieß ich beinahe mit dem Buggy zusammen. Die Frau zog scharf die Luft ein und starrte mich an, als hätte sie Angst, ich wollte ihr das Kind entreißen. »Entschuldigung«, sagte ich noch
einmal. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber wissen Sie vielleicht irgendetwas über dieses Geschäft? Hat es einfach geschlossen?«
»Welches Geschäft?«, fragte die Frau und beugte sich vor, um den perfekt sitzenden Pullover ihrer Tochter zurechtzuzupfen.
» Dieses hier.« Mit einem Finger tippte ich gegen das dreckverschmierte Fenster, das gestern noch den Blick auf funkelndes Gold und Silber freigegeben hatte. Die Augen der Mutter folgten meiner Bewegung flüchtig, schienen das Geschäft jedoch nicht wahrzunehmen. Ihr Kind schwenkte seine Puppe und gab ein leises Gurgeln von sich.
»Das war gestern noch ein Antiquitätenladen mit Schmuck«, erklärte ich.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir wohnen schon seit über einem Jahr in diesem Block, und er ist mir nie aufgefallen«, sagte sie. »Tut mir leid.«
Ich sah ihr nach, wie sie den Buggy über den Bürgersteig schob. An der Ecke bog sie in einen Durchgang, über dem auf einem hölzernen Schild PUCK stand. Wenig später erschien eine zweite Frau mit Buggy, in dem ein kleiner Junge begeistert mit einem Spielzeuglastwagen zum Laden hinüberwinkte. Ein Treffpunkt für junge Mütter offenbar.
Über meine Schulter hinweg sah ich mich wieder zu der verlassenen Geschäftsfassade um. Zumindest sollte ich mir die Adresse notieren, dachte ich. An der Tür selbst befand sich keine Nummer, daher sah ich mir das Gebäude rechts davon an. 123. Dann ging ich zum Haus auf der linken Seite. 121. Gab es hier vielleicht gerade und ungerade Nummern auf einer Straßenseite? Aber als ich die Straße überquerte, entdeckte ich dort etwas nach rechts versetzt
die Nummer 122. Na
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