Blankes Entsetzen
verteidigend.
Doch Helen empfand kein grundsätzliches, universelles Mitleid für die Angeklagten. Aber da gab es etwas in ihrem Innern – Menschlichkeit, hoffte sie –, das sie dazu brachte, sich immer wieder die Frage zu stellen: Wie und warum?
John Bolsovers erstes Erscheinen vor Gericht war für sie persönlich schlimmer als die meisten anderen Gerichtstermine. Sie musste nicht aussagen, und sie wusste, dass man Bolsovers Antrag auf Kaution selbstverständlich ablehnen würde, denn die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ließen keinen Spielraum offen, was das betraf. Und als sie Bolsover beobachtete, wie er auf der Anklagebank saß, fand sie ihn immer noch durch und durch unangenehm, aber …
Das war das Problem. Dieses Aber.
31.
Da Christophers fünfundvierzigster Geburtstag auf einen Samstag fiel, hatte Lizzie beschlossen, ihn gebührend zu feiern. Der Tag sollte zunächst der ganzen Familie gehören. Falls das Wetter mitspielte, würden Angela und William dann zum Mittagessen in den Garten in Holland Park kommen.
»Ich fürchte, ich werfe euch vor dem Abend wieder raus«, erklärte Lizzie, als sie auch ihre Mutter einlud. »Aber wenn du hörst, wohin wir gehen, wird es dich nicht weiter stören.«
»In die Oper«, sagte Angela sofort, denn sie hasste sowohl Ballett als auch klassische Konzerte jeder Art, mehr als alles andere jedoch die Oper. »Was will Christopher denn sehen – oder sagt man hören?«
»Er weiß nichts davon«, sagte Lizzie.
»Eine Überraschung. Wie schön.« Ihre Mutter hielt inne. »Und du hast Recht, es macht mir überhaupt nichts aus.«
Lizzie hatte ihre Pläne für diesen Abend geheim gehalten und nur vier von Christophers liebsten Freunden und Verwandten eingeladen: seinen Bruder Guy Wade, einen Cellisten, und Moira, eine Violinistin, mit der er verheiratet war; außerdem Anna Mellor und ihren Mann, den Kardiologen Peter Szell. Sie hatte für Ariadne auf Naxos eine Loge in Covent Garden reserviert und im Anschluss einen Tisch fürs Abendessen im Le Gavroche. Nicht unbedingt Lizzies Traum von einem idealen Abend in London, aber ziemlich genau Christophers Vorstellung.
»Dafür musst du die Kasse wohl ein wenig plündern«, sagte Angela, als sie es hörte. »Aber wenn jemand es verdient hat, dann Christopher.«
Lizzie erinnerte sich an Edwards Schreie, an Sophies Weinen und Jacks fassungsloses Gesicht. Und an Christopher, wie er sich um alle drei gekümmert, Edward verarztet und die ganze Familie nach Hause gebracht hatte.
»Ja, er hat es verdient«, sagte sie.
Und sie meinte es auch so.
Die Feier war ein großer Erfolg. Christopher war gut gelaunt und in Bestform, vom Frühstück bis zur letzten Minute des Abends, als sie wieder in Holland Park waren und mit ihren Gästen im Wohnzimmer einen Schlummertrunk nahmen, während die Kinder und Gilly am anderen Ende der Wohnung schliefen.
»Erinnert mich daran, dass ich euch Taxis rufe«, sagte Lizzie, während sie zusah, wie Christopher die zweite Runde eines sehr alten Calvados einschenkte, den Peter und Anna ihm mitgebracht hatten. Die vier hatten ihre Autos zu Beginn des Abends vor der Wohnung geparkt, und Lizzie erinnerte sich vage daran, dass sowohl Anna als auch Moira an der Champagnerbar gesagt hatten, sie seien die designierten Fahrerinnen. Doch sie waren schon in der Pause weich geworden, und die Weinliste im Gavroche hatte jeden Rest von Vorsatz in kleine Stücke zersprengt.
»Außer, ihr möchtet hier bleiben«, fügte Christopher hinzu.
»Wir haben nur ein Gästezimmer«, erinnerte Lizzie ihn.
»Und ich habe zwei Patienten, die ich zu Mittag besuchen muss«, sagte Peter. »Ich glaube, ich werde den Morgen zu Hause brauchen, zu Ausnüchterungszwecken.«
»Und Moira hat Probe«, sagte Guy. »Nicht wahr, Liebling?«
Moira nickte, worauf Lizzie den richtigen Augenblick gekommen sah, das örtliche Taxiunternehmen anzurufen. Eine halbe Stunde später – es war gerade Viertel nach zwei durch – standen Christopher und sie vor der Wohnungstür, sein Arm um ihre Schultern, und winkten ihren Gästen nach.
Er schloss die Tür und zog den Arm weg.
»Lizzie, ich kann dir gar nicht sagen, wie viel dieser Abend, der ganze Tag mir bedeutet hat.« Seine Augen waren leicht gerötet vor Müdigkeit und zu viel Alkohol, doch es gab keinen Zweifel, dass Liebe darin lag. »Das war etwas ganz Besonderes, und ich bin dir sehr dankbar.«
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte sie leise.
»Du siehst müde aus.«
»Das bin ich auch,
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