Blaue Rosen
fing sie wieder an zu weinen.
Sie war tot. Genauso tot wie Ricky.
♥
Während alle anderen den Sommer genossen und
ausgelassen ihre letzten Wochen vor dem neuen Leben am College oder
wo auch immer feierten, wurde Delilah erwachsen. In nur wenigen
Wochen schien sie all den Schmerz, den Kummer und die Realität
eines ganzen Lebens zu durchleben.
Auch äußerlich alterte sie um einige Jahre.
Man sah ihr den Schmerz an. Sie weigerte sich, auszugehen, auf den
Abschlussball zu gehen oder mit Andrea und ihrer Familie ans Meer zu
verreisen, was die ihr anbot. Es hätte sie sicher auf andere
Gedanken gebracht, aber Delilah wollte gar nicht von Ricky und ihrem
Kummer abgelenkt werden. Sie wollte trauern, denn ihre Trauer war
alles, was sie noch hatte.
Sie ging zum Haus der Baleys und bat, sich noch einmal
in Rickys Zimmer umsehen zu dürfen. Seine Mom sah sie mitleidig
an und ließ sie herein.
„Ich weiß nicht, was
ich sagen könnte, um deinen Schmerz zu lindern“, sagte
sie.
Delilah versuchte zu lächeln. „Es gibt nichts
mehr zu sagen, es gibt nur unsere Erinnerungen an ihn.“
Sie stieg die Treppen hoch, die sie noch vor Kurzem
zusammen mit Ricky lachend und fröhlich hoch geschwebt war. Als
sie sein Zimmer betrat, erstarrte sie. Sie konnte ihn förmlich
noch spüren – sein Geruch, seine Aura waren
allgegenwärtig.
Sie setzte sich auf sein Bett und sah sich im Raum um.
Rickys rot-schwarz-kariertes Hemd hing an einem Bügel an seinem
Schrank. Sie nahm es herunter und vergrub ihr Gesicht darin, bis es
vor Tränen ganz nass war. Es roch so sehr nach ihm, dass es sich
fast anfühlte wie eine kleine Umarmung.
Als sie eine Stunde später die Stufen wieder
herunterkam, hielt sie das Hemd noch immer in Händen. Sie fragte
Mrs. Baley, die noch immer da stand, wo sie schon vor einer Stunde
gestanden hatte, ob sie das Hemd und das Buch, das sie Ricky zum
Geburtstag geschenkt und über das er sich so gefreut hatte,
behalten dürfe.
„Aber natürlich, Delilah. Ich
wünschte, ich könnte mehr für dich tun als das.“
„Das
ist alles, was ich brauche. Ich danke Ihnen.“
Dann trat sie
zum letzten Mal aus der Haustür der Baleys.
♥
Sie machte sich auf den Weg zu Rickys Grab. Sie besuchte
es jeden Tag, seit sie sich eines Tages aufgerafft und auf den Weg
dorthin gemacht hatte.
Da hatte sie den Grabstein entdeckt, der
einige Tage nach seiner Beerdigung aufgestellt worden war. Die
Inschrift lautete:
Richard
„Ricky“ Anthony Baley ⃰⃰ 26.
Januar 1937
† 10. Juni 1955
Und musstest du uns auch so
jung verlassen,
so wirst du in unseren Herzen weiterleben.
Der Anblick dieser
Worte bewegte Delilah zutiefst, jedes Mal aufs Neue. Bei jedem Besuch
brachte sie Blumen ans Grab. Sie versuchte vergeblich, blaue Rosen zu
bekommen, suchte sogar die Stadt nach dem kleinen Jungen ab, der
ihnen damals diese wunderschöne blaue Rose verkauft hatte, doch
sie konnte ihn nirgends finden.
„ Ach,
Ricky, warum bist du nur gegangen? Wie soll ich denn ohne dich
weiterleben?“, fragte sie ins Nichts. „Wir hatten so
viele Pläne, weißt du nicht mehr? Wir wollten heiraten und
vier Kinder haben und für immer glücklich sein. Und unsere
Wette – du hast mir doch versprochen, dass wir in zwanzig
Jahren noch zusammen wären. Wie soll ich das denn nun alles
allein schaffen, Ricky? Sag mir doch, wie.“ Sie fing wieder an
zu weinen.
♥
Am Ende des
folgenden Monats hatte sie so viele Tränen geweint, dass ihr Dad
sich große Sorgen machte. Sie war nicht nur blass, sie hatte
auch keinen Appetit mehr und aß kaum noch etwas. Sie sah
richtig krank aus. Deshalb sagte er eines Tages zu ihr: „Mein
kleines Mädchen, ich kann es nicht mehr mit ansehen. Es ist
jetzt fast zwei Monate her. Ich verstehe dich, wirklich. Ich kann ja
sehen, wie sehr du leidest. Doch ich habe Angst um dich. Ich möchte
nicht, dass dich deine Trauer ins Grab bringt. Es reicht, dass einer
von euch gestorben ist.“
„ Oh,
Daddy“, schluchzte Delilah und lehnte sich an seine starke
Brust.
„Es tut mir leid. Ich mache mir einfach so große
Sorgen um dich. Meinst du nicht, du könntest einen Urlaub
vertragen? Um mal wegzukommen, alles hier erinnert dich doch nur an
ihn. Um wieder zu Kräften zu kommen. In ein paar Wochen fängt
das College an.“
„Ich weiß gar nicht, ob ich
überhaupt noch aufs College gehen soll. Es hat doch alles keinen
Sinn mehr.“
„Das darfst du nicht einmal denken,
Delilah. Ricky hätte nicht gewollt, dass du deine Träume
aufgibst.“
„
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