Blick in Den Abgrund -3-
Fotos. Sie trat näher, um sie sich anzusehen.
Das erste war das Schwarz-Weiß-Porträt einer Familie. Ein grimmig dreinblickender langhaariger Mann mit einem breiten, kantigen Kinn, das Davys ähnelte, stand in beschützender Haltung hinter einer hellhaarigen Frau, die wesentlich jünger zu sein schien als er. Vier Jungen umringten sie. Sie erkannte den neun- oder zehnjährigen Davy trotz seiner sehnigen, dünnen Gestalt und der langen Mähne, die ihm ins Gesicht hing, sofort. Sein düsterer, durchdringender Blick hatte sich kein bisschen verändert. Der nächstkleinere Junge lachte zum Gesicht seiner Mutter hinauf, und die beiden anderen, die wie Zwillinge aussahen, blödelten und grimassierten für die Kamera. Einer von ihnen musste Sean sein, aber sie konnte nicht unterscheiden, welcher.
Ein anderes Bild zeigte Davy, Sean und den mittleren Bruder als Erwachsene, grinsend und einander die Arme um die Schultern legend. Alle drei waren zu verteufelt attraktiven Männern herangewachsen. Wie wahrscheinlich war so etwas? Sie fragte sich, wo der vierte Bruder abgeblieben war. Dann gab es noch das offizielle Verlobungsfoto des mittleren Bruders mit dem langen Haar, der einer hübschen dunkelhaarigen jungen Frau voller Verehrung ins Gesicht sah. Wie romantisch.
Margot nahm einen Schluck Wein und verspürte einen neidvollen Stich. Sie selbst hatte keine Geschwister, deren Fotos sie aufstellen konnte. Zu ihrem Vater hatte sie den Großteil ihres Lebens keinen Kontakt gehabt, und das war auch gut so. Ihre Mutter war eine großartige, toughe Frau mit einem bissigen Humor gewesen, aber sie war schon lange tot. Die wenigen, kostbaren Fotos, die Margot von ihr hatte, waren inzwischen verloren. Nach dem, was passiert war, hatte sie es nicht gewagt, nach Hause zurückzukehren und ihre Sachen zu holen.
Was geschah mit den Sachen in einem gemieteten Haus, wenn der Mieter spurlos verschwand? Sie hatte keine Angehörigen, die Anspruch darauf erhoben. Kümmerte sich die Stadt darum? Oder hatte ihr Vermieter einfach alles in Müllsäcke gestopft und die Heilsarmee verständigt? Und das waren nur ein paar der vielen Fragen, die sie nachts wach hielten.
Teil einer Familie sein zu wollen war keine Charakterschwäche, vor Neid auf die Familien anderer Menschen zerfressen zu werden hingegen schon. Sie versuchte, dagegen anzukämpfen. Arme, bemitleidenswerte Margot! Wie schrecklich allein auf der Welt sie doch war. Genug jetzt. Die Selbstmitleidsparty war vorbei. Alle raus aus dem Pool! Sie hatte wichtige Dinge zu erledigen.
»Die Vorspeisen sind fertig«, rief Davy.
Ihr Magen grummelte bei dem Gedanken, deshalb kehrte sie in die Küche zurück, um zu sehen, was es gab. Mikey schwebte im siebten Hundehimmel. Der kleine Bettler hatte sein Abendessen bereits verdrückt und bekam zum Dessert gerade häppchenweise rohes Rindfleisch serviert.
»Frisches Baguette, Olivenpaste, Ziegenkäse mit Kräutern und sonnengetrocknete Tomaten aus dem italienischen Delikatessenladen«, zählte Davy auf. »Greif zu.«
Margot bestaunte die farbenprächtige Fülle köstlicher Speisen auf dem Küchentresen. »Lieber Himmel, das nennst du Vorspeisen? Das ist eine vollwertige Mahlzeit!«
»Noch längst nicht.« Er ließ ein weiteres Stück Rindfleisch in Mikeys erwartungsvolles Maul fallen und wurde mit einem enthusiastischen Schwanzwedeln belohnt. »Die vollwertige Mahlzeit kommt danach. Das hier ist nur zum Aufwärmen. Immerhin hast du heute Armer Bauch und Po unterrichtet. Du kannst es dir erlauben zu schlemmen.«
Margots Mundwinkel zuckten. »Alberner Name, oder nicht?«
Die tiefen Grübchen, die seinen Mund umrahmten, waren unwiderstehlich, wenn dieses plötzliche Grinsen aufblitzte. »Einprägsam.«
Margot rieb sich reuevoll über ihren Hintern. »Glaub mir, das ist es. Es ist der Hammer.«
Er ließ mit offenkundiger Bewunderung den Blick über ihren Körper schweifen. »Wenn du deswegen die Figur einer Pantherfrau hast, bin ich unbedingt dafür.«
Sie guckte ihn verwirrt an. »Pantherfrau?«
Verlegen sah er nach unten. »Es hängt mit der Art zusammen, wie du dich bewegst. Du bist so anmutig wie ein weiblicher Panther auf Beutezug. Geschmeidig und wunderschön. Und gefährlich.«
Ihr wurde so weich und warm ums Herz, als würde sie am ganzen Körper erröten. »Gefährlich? Ich?« Sie versuchte zu lachen. »Schön wär’s. Eine Pantherfrau. Mensch, das gefällt mir. Du verstehst es, einer Frau zu schmeicheln.«
»Das war keine Schmeichelei.
Weitere Kostenlose Bücher