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Blinde Wut

Blinde Wut

Titel: Blinde Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scheibler
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auf Herrn Däubler haben soll.«
    »Danke, das wäre mir sehr lieb.«
    »Und der zweite Punkt?«
    »Der betrifft auch die Sicherheit von Herrn Däubler«, antwortete Lutz, »wenn auch auf ganz andere Weise. Halten Sie ihn für selbstmordgefährdet?«
    »Interessant, daß Sie das fragen«, meinte Kröll. »Erst gestern habe ich selbst den Kollegen Winkler auf dieses Problem angesprochen.«
    »Und?«
    »Wir sind beide der Meinung, daß die Gefahr zwar fortbesteht, im Augenblick aber eher gering ist. Erst wenn Herr Däubler sich wieder an alles erinnert und in Depressionen fällt, kann es erneut kritisch werden. Aber machen Sie sich keine Gedanken«, fügte er noch hinzu, »wir passen gut auf ihn auf.«
     
     
    Wagner hatte sich nur einen Augenblick lang in der Toilette aufgehalten. Als er annehmen konnte, daß Lutz verschwunden sein würde, war er wieder auf den Korridor zurückgekehrt, den er jetzt in der Hoffnung entlangschlenderte, auf Schwester Birgitta zu treffen oder zumindest auf eine ihrer Kolleginnen, die ihm sagen konnte, wo er sie finden würde.
    Drei von ihnen waren schon an ihm vorbeigehuscht, aber er hatte sich nicht getraut, sie aufzuhalten, weil sie so geschäftig wirkten und ihre Hast so zielgerichtet war – und sie ihm nicht einmal einen Blick geschenkt hatten.
    Jetzt kam eine auf ihn zu – Schwester Cornelia, wie er drei Schritte später ihrem Namensschild entnehmen konnte – die es nicht so eilig zu haben schien und sich auch nicht scheute, ihm offen in die Augen zu sehen.
    »Entschuldigen Sie bitte«, hielt er sie an. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Schwester Birgitta finde?«
    »Schwester Birgitta?« wiederholte sie und runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie eine andere Frage erwartet oder erhofft. »Die hat doch längst Dienstschluß. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
    Ihr Tonfall irritierte Wagner. Sollte das eine Anmache sein, oder stimmte etwas nicht mit seinen Ohren? Oder mit seiner Phantasie? Er musterte Schwester Cornelia und stellte fest, daß sie eine wunderbare Figur hatte. Sofort schämte er sich seines Blickes und hätte ihn gern rückgängig gemacht. Aber Schwester Cornelia schien sich nichts daraus zu machen und lächelte weiter, und ihr Lächeln wirkte auf Wagner plötzlich wie eine einzige Herausforderung.
    Wagner senkte den Blick und schloß die Augen. Sofort tauchten Bilder in seinem Kopf auf, die sich zu kleinen Szenen zusammenfügten. Eine Szene folgte der anderen, der Ablauf wurde schneller und immer schneller, bis er Zeitraffertempo erreichte und ein ganzes Leben in Sekundenschnelle abspulen ließ. Die ersten Bilder zeigen ein lauschiges Plätzchen am Neckar und eine Bank, auf der Wagner und Cornelia sich niederlassen, einander näherrücken und sich küssen. Der Kuß wird in einem geschlossenen Raum fortgesetzt, dann in einem Bett und wieder in einem anderen Bett, in dem es nicht bei dem Kuß bleibt. Das Bett steht in Wagners Appartement, in dem es penibel aufgeräumt ist und vor Sauberkeit nur so starrt. Gegenstände werden hineingetragen: Cornelia ist bei ihm eingezogen. Dann Wagner, der ein Sakko anhat, wie es alle tragen, mit locker umgebundenem Schlips, einen Blumenstrauß in der Hand und eine Verbeugung vor einem mittelalten Ehepaar machend. Ein Antrittsbesuch mit Kaffee und Kuchen. Wohlwollende Blicke. Wagners säuerliches Grinsen, das einem süßlichen Lächeln gewichen ist. Und wieder das lauschige Plätzchen am Neckar, diesmal keine Küsse, sondern Worte, die gewechselt werden, viele Worte, ernste Worte. Cornelia, die weinend aufsteht und fortläuft, Wagner, der ihr mit schlechtem Gewissen folgt. Wagner auf Lehrgängen und im Einsatz, Wagner bei einer Beförderung und dann plötzlich zusammen mit Cornelia vor einem Pfarrer. Wozu das? Ach ja, die Hochzeit! Cornelia im weißen Brautkleid, Wagner im dunklen Anzug mit silbergrauer Krawatte. Ein Spalier uniformierter Kollegen vor dem Ausgang, schadenfrohe Blicke von Krüger, ein falsches Lächeln von Gaby. Umzug in eine größere Wohnung, dann Cornelias Bauch, der immer dicker wird. Säuglingsgeschrei, Babygeschrei, Kindstaufen mit dem Pfarrer und der Familie, gleich dreimal hintereinander, Berufsstreß, gefährliche Einsätze, Beförderung, neues Büro, ein Assistent und ein Schnurrbart auf der Oberlippe, Bauchansatz. Wieder ein Umzug, diesmal in ein Eigenheim, ein Reihenhaus am Stadtrand. Die Kinder bei der Einschulung, Elternabende, Hausaufgaben, Schulabschlußfeier. Noch eine Beförderung, noch ein

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