Blinde Wut
Gaby.
»So?« Wagner ließ sein säuerliches Grinsen noch einmal aufblitzen.
»Wo ist er?«
»Weiß ich nicht.«
»Warum grinsen Sie dann so?«
»Grinse ich?«
»Natürlich grinsen Sie!« Gaby war erbost, und Wagner beschloß, seine Taktik zu ändern. »Tut mir leid«, gab er sich bekümmert, »ich wollte nicht grinsen. Dazu besteht auch keinerlei Anlaß.«
Etwas in seinem Tonfall ließ sie aufhorchen. »Wie meinen Sie das?« fragte sie lauernd.
Wagner tat, als müsse er mit sich ringen, ihr eine unangenehme Wahrheit zu sagen. Er spielte mit ihr, keine Frage, und es war ein nicht ganz faires Spiel, das er vor sich nur mit der Erinnerung an ihren verächtlichen Gesichtsausdruck rechtfertigen konnte, den sie aufgesetzt hatte, als man ihn aus dem Atlantis warf.
»Krüger ist vorhin von Doris abgeholt worden«, sagte er obenhin.
»Welche Doris?«
»Na, die kleine Brünette von der Sitte«, erklärte Wagner und fügte nach einem Blick auf ihre blonde Haarpracht hinzu: »Krüger steht auf brünett, wußten Sie das nicht?«
Gaby war außer sich, und Wagner, der das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte, fügte, um sie zu beruhigen, noch eine weitere Lüge hinzu: »Ich glaube, sie hat ihn um Amtshilfe gebeten. Wegen irgendeiner Razzia im Rotlichtmilieu.«
Gaby dachte eine Weile nach. »Haben Sie noch lange hier zu tun?« erkundigte sie sich dann vorsichtig.
»Warum?«
»Wir könnten vielleicht irgendwo noch einen Schluck zusammen trinken«, meinte sie betont beiläufig.
»Gern«, erwiderte Wagner und fügte hinzu: »Aber nicht im Atlantis! Überall, nur nicht dort!«
Gaby lächelte ihn an und ließ ihn jede Erinnerung an verächtliche Mienen vergessen. Im Nu war Wagner mit seiner Aufstellung fertig und mit Gaby verschwunden.
Als Krüger wenige Minuten später auftauchte, um Gaby abzuholen, lag nur noch der Hauch ihres Parfüms in der Luft.
Bernhard Däubler konnte in dieser Nacht lange keinen Schlaf finden. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere und quälte sich mit Gedanken und Erinnerungsfetzen herum, die ihm wahl- und zusammenhanglos durch den Kopf schossen.
Schließlich gelang es ihm, sich auf den merkwürdigen Besuch seiner Schwiegermutter und seines Schwagers an diesem Nachmittag zu konzentrieren. Den Sinn des makabren Präsents von Lorenz hatte er sofort verstanden. Er sollte sich erschießen, diese Aufforderung war deutlich, und er entsann sich, daß in Marions Familienvergangenheit preußische Offiziere herumgeisterten, auf deren Ehrenkodex Lorenz wohl zurückgegriffen hatte, als er sich zu dieser theatralischen Geste hinreißen ließ.
Seltsam, dachte Däubler, an was alles er sich auf einmal wieder erinnern konnte! Nur nicht an das Wesentlichste, nämlich, warum er auf Marion und Christian geschossen hatte.
Er blieb mit seinen Gedanken bei Lorenz Kleinhanns. Vielleicht war das der Weg, der in die verschlossenen Kammern seines Gedächtnisses führen würde. Was die preußischen Offiziere wohl dazu gesagt hätten, schoß es Däubler plötzlich durch den Kopf, daß Lorenz schwul war? Vermutlich nichts: spätestens seit Friedrich dem Großen war das kein Thema mehr für sie.
Nachdem er ein paarmal kurz, aber heftig mit ihm aneinandergeraten war, weil Lorenz nicht schlucken wollte, daß Däubler jetzt die Nummer eins im Leben von Marion war und Lorenz nicht mehr mit jedem Wehwehchen oder jedem Hirnfurz zu ihr rennen konnte, hatte Marion ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß Lorenz, vermutlich ohne sich dessen bewußt zu sein, ganz bestimmt aber, ohne es wahrhaben zu wollen, schwul war. Däubler, der sich nicht vorstellen konnte, daß es auf Dauer gut war, wenn jemand einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit hermetisch abschottete, hatte versucht, Marion davon zu überzeugen, daß jetzt einer von berufener Seite gefragt war, der Lorenz erklären sollte, daß seine Veranlagung so verabscheuenswürdig war wie Linkshändigkeit. Kein Linkshänder käme heutzutage noch auf die Idee, mit rechts zu schreiben, und so solle sich auch Lorenz, schon um der eigenen Lebensqualität willen, zu seiner Veranlagung bekennen. Aber davon hatte Marion nichts wissen wollen. Sie kannte ihren Bruder besser als jeder andere und wußte, wie er dachte und fühlte. Das Thema Sexualität aber, insbesondere seine eigene, war für ihn ein absolutes Tabu. Däubler mußte Marion versprechen, sich nicht anmerken zu lassen, was er wußte und niemals auch nur ein Sterbenswörtchen
Weitere Kostenlose Bücher