Blinde Zeugen: Thriller
dass wir keinen Haftbefehl brauchen? Und keine bewaffnete Verstärkung? So was in der Art?«
»Wir stellen nur ein paar Fragen.« Logan drückte auf die Klingel. Es tat sich nichts. »Außerdem gehen wir bloß einem Hinweis nach, weiter nichts.« Und sowieso hätte man ihm niemals ein AFO-Team zur Verfügung gestellt – nicht nach der desaströsen Vorstellung in der Gemischtwarenhandlung Kraków heute Nachmittag.
Irgendwo unter ihnen schaute jemand EastEnders – Stimmen mit Cockney-Akzent drangen durch das Treppenhaus zu ihnen herauf. Auf den Fensterbänken stapelten sich Wurfsendungen: Werbung für Treppenlifte, 50-plus- Lebensversicherungen und Vorrichtungen, die einem helfen sollten, unfallfrei in die Badewanne und wieder heraus zu kommen.
Logan klingelte noch einmal.
Immer noch nichts.
»Vielleicht ist er nicht zu Hause? Wir könnten –«
»Schsch!« Logan hob einen Finger. Er legte das Ohr an die Tür, und nach kurzem Zögern tat der Constable es ihm gleich. In der Wohnung lief Musik – irgendetwas mit zu viel Bass und zu wenig Melodie. So standen die beiden rund eine Minute da, bis eine laute Stimme hinter Logan ihn zusammenfahren ließ.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er drehte sich hastig um und erblickte eine Frau von Mitte fünfzig mit feuerrot gefärbten Haaren, die an den Wurzeln grau nachwuchsen und am Scheitel ausfielen. Sie war schwer mit Einkaufstaschen beladen.
»Wir … haben versucht, zu klingeln.« Logan zeigte auf die Klingel.
»Die ist kaputt.« Sie schrie fast. Dann musterte sie die beiden von Kopf bis Fuß, besonders aufmerksam PC Guthrie in seiner schwarzen Uniform. »Sind Sie von den Zeugen Jehovas?«
»Äh … nein. Wir sind von der Polizei.«
»Wir hatten schon ewig keine Zeugen Jehovas mehr hier. Ich glaube, unser Daniel hat sie verschreckt. Jetzt ist er zwar tot, aber von solchen Kleinigkeiten hat er sich noch nie abhalten lassen.« Sie kramte in ihrer Handtasche und förderte einen großen Schlüsselbund zutage, mit dem sie herumhantierte, bis sie den Schlüssel gefunden hatte, der ins Schloss der Wohnungstür passte. »Bitte sehr.«
Sie betraten eine kleine Diele. Eine Garderobe, behängt mit Fleecejacken und Mänteln, ein Schirmständer mit drei Golfschlägern. Ein Muttergottesbild. Eine Tür führte ins Bad, das eine Explosion in Pink war, die andere in ein kleines Wohnzimmer mit Kochecke.
Die Musik war jetzt lauter. Bmmm-tschhhh, bmmm-tschhh, bmmm-tschhhh …
Logan sah der Frau zu, wie sie ihre Sammlung von Einkaufstüten auf die Arbeitsfläche hievte. »Mrs. Gilchrist, wir würden uns gerne mit Ihrem Sohn unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben?« Pause. »Mrs. Gilchrist?«
Jetzt räumte sie eifrig Maisdosen in einen Schrank.
Logan tippte ihr auf die Schulter. »Mrs. Gilchrist?«
Sie zuckte zusammen. Fuhr herum und starrte ihn an. »Kenne ich Sie? Wie sind Sie in mein Haus gekommen?«
»Sie haben uns reingelassen, gerade eben erst. Erinnern Sie sich nicht? Sie dachten, wir wären Zeugen Jehovas.«
Sie lächelte. »Wir hatten schon ewig keine Zeugen Jehovas mehr hier. Ich glaube, unser Daniel hat sie verschreckt. Jetzt ist er zwar tot, aber von solchen Kleinigkeiten hat er sich noch nie abhalten lassen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ein gerahmtes Porträt auf der Fensterbank, das einen Mann mit strengen Zügen und Augen wie Brandmale von Zigaretten zeigte. »Manchmal geht er mit mir einkaufen.«
Logan sah an dem Bild vorbei aus dem Fenster. Von hier aus konnte man die kastenförmigen Häuser am Burnbank Place sehen. Er ließ den Blick die Reihe entlangwandern, bis er das mit der Schuttmulde davor gefunden hatte – das, in dem Doc Fraser ein lebendes Ödipus-Opfer obduziert hatte. »Wir müssen mit Ihrem Sohn sprechen, Mrs. Gilchrist.«
Sie sah einen Moment lang verständnislos drein. »Sie müssen entschuldigen, ich bin ein bisschen taub. ›Taubdumm‹, hat mein Daniel immer gesagt. Er ist jetzt tot.« Sie kramte ein klobiges beigefarbenes Hörgerät aus einer Küchenschublade und schwenkte es. »Möchten Sie eine Tasse Tee? Zeugen Jehovas dürfen doch Tee trinken, oder?«
»Wir sind nicht …« Logan brach ab. »Ja, das wäre sehr nett, danke.«
»Wie schön. Wir hatten schon ewig keine Zeugen Jehovas mehr hier. Ich glaube, unser Daniel hat sie verschreckt.«
»Können wir mit Ihrem Sohn sprechen, Mrs. Gilchrist?«
»Jetzt ist er natürlich tot. Hatte ja Krebs, nicht wahr? Ganz schlimme Sache … Er war doch immer so ein liebenswürdiger
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