Blinde Zeugen: Thriller
Samantha den Rest aus der Weinflasche ein und bestellte noch eine. »Und, ist es noch was geworden? Ich meine das Tattoo, das unser Dödel vom Dienst hier zu ruinieren versucht hat?«
Sie lächelte und rollte den Ärmel ihres Totenkopf-T-Shirts hoch. Es war ein lebensgroßer Handabdruck in schwarzer Tinte, ausgefüllt mit kleinen exotischen Kringelmustern, und die Haut drumherum war immer noch ein bisschen rot und entzündet. »Wie findest du es?«
»Das muss ja saumäßig wehgetan haben!«
»Nicht so viel wie das hier.« Sie drehte ihm den Rücken zu und zog den Halsausschnitt ihres T-Shirts weg. »Ist schon okay, darfst ruhig gucken.«
Logan spähte hinein – es war ein chinesischer Drache, und er bedeckte so ziemlich den ganzen Rücken, unterbrochen nur von der schwarzen Linie ihres BH-Trägers. »Wow!«
Samantha sah ihn an und grinste. »Das ist noch gar nichts – warte, bis du den Rest siehst!«
Sie fielen kichernd über die Schwelle und taumelten gleich küssend und fummelnd weiter ins Schlafzimmer, wo sie im Dunkeln über einen Pappkarton stolperten. Logan schaltete die Nachttischlampe ein. »Ich will nur, dass du weißt«, sagte er, bemüht, ernsthaft zu klingen, »dass ich so was normalerweise nicht mache …« Er zog die Stirn in Falten. »Wenn ich’s mir recht überlegte, hab ich so was seit …« Er zählte an den Fingern rückwärts – Juni, Mai, April, März …, »seit neun Monaten nicht mehr gemacht!«
Sam pfiff durch die Zähne. »Neun Monate? Hoffentlich kannst du dich noch erinnern, wo was hinkommt. Dann will ich dir mal ein bisschen auf die Sprünge helfen.« Sie zog das T-Shirt über den Kopf, und noch mehr Tätowierungen kamen zum Vorschein. Direkt unter dem BH hielten zwei Skelette ein Spruchband mit der Aufschrift QUOTH THE RAVEN: »NEVERMORE« , und aus dem Bund ihrer schwarzen Lederhose reckte ein exotisches Fantasiewesen sein dürres Bein – es sah aus, als ob eine Riesenspinne aus ihrem Slip zu entkommen versuchte. Beide Arme waren mit Totenschädeln und Herzen und verschlungenen Mustern überzogen.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Na los, steh nicht einfach nur rum – runter mit den Klamotten!«
Während Logan sich aus seinem Hemd schälte, zog Sam ihre Ringelsocken und die schwarze Lederhose aus, bis sie nur in ihrer Unterwäsche auf dem Bett kniete. Allerdings machte die wesentlich mehr her als Logans leicht ausgebeulte blaue Marks-&-Spencer-Unterhose.
»Oh, sehr sexy!«
Logan zuckte mit den Achseln. »Dachte ja nicht, dass irgendjemand sie sehen würde.«
Das spinnenartige Ethno-Tattoo reichte bis zu ihrem linken Knie – dicke schwarze Tintenzacken, für immer in ihre Haut eingebrannt. Es war verstörend und zugleich eigenartig erotisch. Sie löste den Verschluss ihres BHs, ließ sich aufs Bett sinken und sagte: »Was ist, willst du noch ewig da rumstehen?«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen.
Sie lagen Seite an Seite und schnauften erst einmal durch. Samantha fuhr mit dem Finger über Logans Bauch – die kleinen Narbenwürmchen glänzten im weichen Licht der Nachttischlampe. »Hat es wehgetan?«
»Nein, du warst sehr behutsam.«
Sie boxte ihn. »Das Messer in den Bauch zu kriegen, du Idiot. Hat es wehgetan?«
»Die ersten sechs oder sieben Male sind am schlimmsten. Danach verschwimmt alles irgendwie ineinander.«
Ihr Finger spazierte zählend über seinen Bauch. »Dreiundzwanzig.«
»Ich glaub, ich hab mir an deinem Nippel-Piercing einen Zahn abgebrochen.«
»Stimmt es, dass du auf dem OP-Tisch schon klinisch tot warst?«
Logan wälzte sich aus dem Bett. Der Versuch, das Thema zu wechseln, war gescheitert, aber das Zimmer zu verlassen würde bestimmt helfen. »Ich hol mir ein Glas Wasser. Für dich auch?«
Sie lächelte. »Ein Mann und seine Geheimnisse, wie? Ich hätte gern eine Cola. Und dann kannst du deinen sexy Narben-Body wieder ins Bett schwingen. Ich hab noch zwei Kondome übrig.«
15
Torry lag direkt südlich des River Dee; mit seinen gewundenen und verschlungenen Straßen, gesäumt von alten Mietshäusern aus Granit und Betonklötzen mit Sozialwohnungen, sah es von oben aus wie ein Fingerabdruck von einem Kilometer Länge in abgestuften Grautönen. Der Tatort war eine Dreizimmerwohnung, ungefähr in der Mitte der Victoria Road, aus deren Fenstern man über die Fischfabriken und Lagerhallen hinweg bis zum Hafen sehen konnte. Dazwischen glitzerten die Schlammbecken und Öltanks in der Sonne, und im Hintergrund schaukelten mehrere
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