Blood Romance 03 - Bittersuesse Erinnerung
hatte alle Schubladen und Schränke nach Schulheften oder irgendwelchen anderen Aufzeichnungen von Dustin durchstöbert, um seine Handschrift mit den beiden Briefen vergleichen zu können, aber sie hatte nichts Brauchbares entdeckt. Tatsache war jedoch, dass sich die Schriften zu sehr voneinander unterschieden, als dass sie beide von Dustin hätten stammen können. Der Brief, den Sarah erhalten hatte, war sehr akkurat geschrieben. Einige der Buchstaben waren beinahe künstlerisch geschwungen und zeugten von einer gewissen Eleganz, wohingegen der andere zwar auch sorgfältig und nicht in Eile verfasst schien, jedoch eine schlichtere und sehr viel jugendlichere Schrift aufwies.
Als May auf Höhe des Erdgeschosses angekommen war, blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Eine Tür war eben geräuschvoll ins Schloss gefallen. Aber nicht über ihr, sondern im Keller. Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Die unbenutzten Räume dort unten gaben ein wunderbares Versteck ab. Niemand hielt sich nach der Fertigstellung des Neubaus noch dort auf. May zog ihre Schuhe aus und schlich ein paar Stufen hinab. Schwaches Licht drang ihr entgegen, gerade so viel, dass sie für einen kurzen Moment einen Schatten an der Wand erkennen konnte, der aus einem der Zimmer in ein anderes huschte. Aber es war nicht der Schatten eines Mannes, sondern eindeutig der einer schlanken zierlichen Gestalt mit langen Haaren.
Sarah, schoss es May durch den Kopf. Sarah war hier - weshalb auch immer. Sie hatte sich vermutlich zwischenzeitlich in einem der Lagerräume einquartiert und würde sich nachher in Richtung Steinbruch aufmachen. Ihr Auto hatte sie vorsorglich schon am Waldrand geparkt, damit hier im Wohnheim niemand auf sie aufmerksam wurde. Und vermutlich vor allem nicht May ... May überlegte fieberhaft. Sie musste unbedingt verhindern, dass Sarah zu dem Treffen ging und sich in ihrer blinden Verliebtheit in Gefahr begab. Stattdessen würde sie selbst zu gegebener Zeit am Steinbruch erscheinen. Und falls sie Dustin tatsächlich antraf, konnte sie ihn endlich -
»He, was treibst du da?« Die dröhnende Stimme, die von oben herunterschallte, ließ May kurz aufschreien. »Komm sofort zurück, du weißt doch, dass du hier nichts verloren hast. Wenn du heimlich rauchen willst, such dir gefälligst einen anderen Platz!«
May ging mit zitternden Knien die Stufen empor. Der Hausmeister erwartete sie mit hochrotem Gesicht. »Wenn ich dich hier noch einmal erwische, dann gibt’s Ärger, verstanden? Also, mach, dass du wegkommst!«
Sarah spürte, wie die Müdigkeit sich um sie legte wie ein betäubender Schleier. Die Tropfen schienen trotz des überschrittenen Ablaufdatums zu wirken und sie wehrte sich nicht dagegen. Sie wusste, dass es in diesem Fall gut war, sich dem Schlaf hinzugeben. Dustin brauchte jetzt all ihre gemeinsame Kraft für sein Vorhaben.
Dustin, der lange Zeit schweigend an dem kleinen schmutzigen Fenster gestanden und gedankenverloren in die Dunkelheit geblickt hatte, drehte sich nun um und ließ sich neben Sarah nieder. Er küsste sie sanft.
Könnten wir uns doch die ganze Nacht einfach in den Armen halten und uns ohne Angst und Sorgen küssen, so oft wir wollen, dachte Sarah wehmütig. Werden wir es jemals können?
»Ich werde mich jetzt auf den Weg machen«, sagte Dustin kurz darauf leise. »Es ist zwar noch nicht so spät, aber ich brauche unbedingt ein Versteck, von wo aus ich einen guten Überblick habe und mich niemand sehen kann. Hier ...« Er holte etwas aus seiner Tasche. Einen Gegenstand, den er fast schon vergessen hatte und welchen er gut bei Jonathans Attacke hätte gebrauchen können.
»Das ist das Messer, das du bei dir hattest, als du mich gefunden hast. Behalt es bei dir - wobei ich nicht glaube, dass du es brauchen wirst. Bisher weiß niemand von unserem Versteck.«
»Bis auf Jonathan«, erinnerte ihn Sarah.
»Ja, bis auf ihn.« Mit Schaudern dachte Dustin an Jonathans letzten Besuch und an seinen plötzlichen kalten Blick. Aber Jonathan liebte Sarah, er würde ihr gegenüber nicht in diesem Maße ausrasten ... Hoffentlich.
Sarah nahm das Messer an sich.
»Weckst du mich bitte, wenn du zurück bist, und erzählst mir, was du herausbekommen hast?«
»Versprochen.«
Sarah lächelte Dustin müde an. »Bis dahin bin ich mit meinem Herzen bei dir«, murmelte sie. »Vielleicht hörst du es ja, auch wenn es nur ganz leise schlägt.«
»Bestimmt höre ich es. Sarah. Ganz tief in mir höre ich
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