Blood Romance 03 - Bittersuesse Erinnerung
höheren Macht dafür, dass sie sich nicht gezeigt hatte. Von einer Sekunde auf die andere schoss Emma plötzlich in einer unwirklich schnellen Bewegung auf etwas zu, das May nicht einmal sehen konnte, und warf sich mit einem Schrei darauf. Ein ohrenbetäubendes Quieken, gefolgt von einem grausigen Knacken, durchbrach die Stille.
May starrte wie unter Schock auf die Szene, die sich nur ein paar Meter von ihr entfernt abspielte. Emma war über das Reh gebeugt, das nur noch ein paar Mal hilflos zuckte und dann leblos zusammensackte. Sie hatte ihre Zähne und Fingernägel in das Fleisch des Tieres gegraben und die saugenden und schmatzenden Geräusche, die folgten, drehten May beinahe den Magen um. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Das konnte doch nicht wahr sein! Emma ... Emma war eine von ihnen, sie war ... wie Dustin. May umklammerte mit beiden Armen ihren zitternden Körper. Aber sosehr sie dieser schreckliche Anblick auch schockierte und anekelte, sie konnte einfach nicht wegsehen.
Jonathan, schoss es ihr im nächsten Moment durch den Kopf. Ich muss ihn warnen. Auch er ist in Gefahr. Wenn er Emma abweist, dann wird sie sich auf grausame Weise an ihm rächen und —
Weiter kam May in Gedanken nicht. So verwirrt und entsetzt sie ohnehin schon war - als sie jetzt Jonathans Stimme hörte, setzte ihr Herz für einige Sekunden aus.
»Hier bin ich, du wolltest mich treffen?«
Emma drehte sich zu Jonathan um und ließ ihr Opfer achtlos fallen. Im fahlen Mondlicht glänzten ihre blutverschmierten Lippen und spitze Zähne blitzten auf. May schauderte und ihr Körper war wie gelähmt.
Emma befand sich wahrscheinlich noch immer im Blutrausch und würde sich in ihrer Gier auch auf Jonathan stürzen. Ihr Kopf dröhnte.
»Du bist zu spät«, zischte Emma. »Wieso kannst du nicht einmal pünktlich sein?«
»Tut mir leid, ich konnte nicht früher weg, aber ich habe mich wirklich beeilt, Emilia, was gibt es denn?«
Emilia, Emilia, Emilia ... Es traf sie wie ein Fausthieb.
»So einiges!«
May merkte, wie es vor ihren Augen zu flimmern begann.
Emilia ... Der Name war ihr bislang immer nur wie ein Wort erschienen, ohne wahres Gesicht und ohne Stimme. Doch Emilia war echt, sie war hier. Sie war keine fantastische Erfindung, sondern grausame Wahrheit.
May wollte schreien, wollte aus diesem Albtraum erwachen.
Das kann nicht wahr sein, das darf einfach nicht wahr sein ...
Sie spürte, wie ihre Beine schwach wurden.
Bleib wach, du darfst dich nicht bemerkbar machen, sie dürfen nicht wissen, dass du hier bist... Sie kennen sich, Jonathan kennt sie ...er kennt Emilia ...
Mit letzter Kraft klammerte sich May an einen Ast, um nicht vor Schwindel und Übelkeit zusammenzubrechen.
»Sarah, mach auf. Ich bin zurück, bitte, wach endlich auf?« Dustin klopfte verzweifelt an die verschlossene Tür. Wieso hatte Sarah abgesperrt? Verdammt, er hätte den Schlüssel sofort an sich nehmen sollen. Wahrscheinlich hatte sie sich alleine zu unsicher gefühlt und jetzt schlief sie so fest, dass sie ihn nicht hörte. Dabei mussten sie dringend fort von hier! Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis May und Emilia wieder im Wohnheim auftauchten.
Dustin wusste, dass er sich beruhigen musste. Je aufgebrachter er war, desto weniger Lebensenergie besaß Sarah und desto unwahrscheinlicher war es, dass sie ihn hörte und aufwachte. In Kombination mit dem einschläfernden Mittel, das sie genommen hatte, würde sie so noch ewig schlafen.
Dustin rannte zum Treppenhaus zurück und nach draußen. Angestrengt suchte er nach dem schmalen Kellerfenster. Es lag so tief und war so dicht von dornigen Hecken umrankt, dass man es kaum erkennen konnte. Mir einem Stein warf er die schmutzig trübe Scheibe ein. Er selbst passte nicht durch die Öffnung, sie war viel zu schmal, aber vielleicht konnte ihn Sarah jetzt zumindest besser hören.
»Sarah! Sarah!« Dustin traute sich nicht, laut zu schreien, er wollte niemanden auf sich aufmerksam machen. Mit Sarahs Taschenlampe, die er mitgenommen hatte, leuchtete er in das Kellerabteil. Von seiner Position aus war Sarah gar nicht zu sehen. Alle möglichen Schränke und anderes Gerümpel versperrten ihm die Sicht auf sie. Die Verzweiflung in ihm wurde immer größer. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit ihnen nur so davonrannte. Er musste sich konzentrieren, musste nach einem Ausweg suchen.
Jonathan, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Jonathan war jetzt seine einzige Chance.
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