Blood Romance 03 - Bittersuesse Erinnerung
feindseligen Ausdruck in Jonathans Augen. Hoffentlich lauert er mir nicht auf, schoss es Dustin durch den Kopf.
Er tastete nach dem Lichtschalter. Jonathans Bett war leer und sah auch nicht so aus, als sei es kürzlich benutzt worden. Er schien schon den ganzen Abend lang unterwegs zu sein. Dustin sah sich in dem Zimmer um. Es war ziemlich ordentlich und bis auf ein paar unsortierte Zettel und Stifte auf dem Schreibtisch lag nichts Auffälliges herum. Er öffnete den Schrank - er wusste selbst nicht, warum oder wonach er eigentlich suchte. Außer einer Unmenge Klamotten, die alle fein säuberlich sortiert waren, fand er nichts Besonderes. Jonathan schien für jeden Anlass ausgestattet zu sein. Dustin schloss den Schrank wieder und wandte sich der Schreibtischschublade zu. Hier herrschte das Chaos. Zettel über Zettel, Kassenbelege, Kaugummipapiere, Kleingeld, eine abgewetzte Mappe, vollgestopft mit weiterem Papierkram, darunter ein Schlüssel ...
Dustin stockte der Atem. Vorsichtig zog er den Schlüssel hervor. Er war mit einem blauen Bändchen versehen. Dustins Schlüssel! Der Schlüssel zur Sicherheitstür zwischen dem Neubau und dem Westtrakt. Genau der Schlüssel, der ihm ahhandengekommen war, wodurch er auf seinem Zimmer festgesessen hatte - und Sarah mit ihm. Dustin wurde schwindelig. Jonathan hatte ihm den Schlüssel gestohlen. Aber warum, was hatte er damit vorgehabt? Weshalb war er in Dustins Zimmer eingebrochen? Was ... Dustin fuhr herum. Schritte näherten sich. Ohne zu zögern, knipste er das Licht wieder aus und drückte sich gegen das schmale Stück Wand zwischen Bett und Kleiderschrank. Ein besseres Versteck fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
Sekunden später öffnete sich die Tür und jemand trat ein, vorsichtig, zaghaft. Dann, nach ein paar Augenblicken, ging das Licht an und Dustin erspähte ... May. Sie war zurück. Sie war tatsächlich gekommen, um mit Jonathan zu sprechen und herauszufinden, dass Sarah und Dustin sich im Keller des Westtraktes aufhielten - wenn er nicht sofort etwas dagegen unternahm.
Wie von selbst griff er nach der Kordel seines Kapuzenpullis und zog sie vorsichtig heraus. Er musste es tun, er hatte keine andere Wahl. Er schloss die Augen und rief sich die Szene von vorhin ins Gedächtnis. Sie hat sich mit IHR verbündet, sie ist eine Verräterin, sie ist gefährlich und nicht mehr die, die sie einst war ...
Dustin spannte die Kordel zwischen seinen Fingern. Es würde schnell gehen.
May wusste nicht, was sie eigentlich hier wollte. Ihre Beine hatten sie wie von selbst zu Jonathans Zimmer getragen. Es verwunderte sie nicht, dass sie ihn nicht antraf. Sie hatte ihn gesehen. Er war noch unterwegs. Im Wald. Mit Emilia. An irgendeiner Grube. Wahrscheinlich eine Falle, die sie für Dustin errichtet hatten, um ihn darin auszuhungern. So, wie May es eigentlich vorgehabt hatte, wie sie es sich in letzter Zeit immer häufiger ausgemalt und in ihren Träumen vor sich gesehen hatte. Aber sie hätte sich an dem Falschen gerächt, wenn sie ihre Fantasien in die Tat umgesetzt hätte. Dustin war unschuldig, zumindest mit Simons Tod hatte er nichts zu tun. Er nicht, dafür Jonathan. Jonathan ...
Mays Innerstes fühlte sich an wie ein Bündel aus Wut, Enttäuschung und unbändigem Hass. Und dieses Bündel weckte sie allmählich aus ihrer Starre und diesem lähmenden Gefühl aus Ohnmacht und Fassungslosigkeit. Langsam begriff sie und die Wahrheit arbeitete sich zäh zu ihrem Bewusstsein hindurch. May stieß einen erstickten Schrei aus, dann stürzte sie wie von Sinnen auf die Fenster zu, riss die Vorhänge von der Stange, wandte sich Jonathans Schreibtisch zu, schleuderte seinen Papierkram und seine Stifte zu Boden, riss die Schublade auf und zerrte alles heraus, was ihr in die Finger kam, während Tränen ihre Wangen hinabliefen. Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit. Sie war wütend, auf alles und jeden, aber am meisten auf sich selbst. Alles, worauf sie sich gestützt hatte, war eine einzige Lüge gewesen, ihr Vertrauen zu Jonathan unbegründet und naiv. Alle um sie herum waren weitsichtiger gewesen als sie, die stets ihrer Sache so sicher gewesen war.
Dustin war während der letzten Monate das Zentrum ihrer Wut und Rachepläne gewesen. Der Falsche, der Falsche ...
»Ich hasse dich, Jonathan, ich hasse dich, hasse dich, hasse dich ...« Mays Hände griffen nach einer alten Mappe. Sie wollte sie zerfetzen, wollte all das verwüsten, was zu Jonathans verlogenem Leben gehörte. »Du
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