Blood Romance 04 - Ruf der Ewigkeit
die Adresse in Gedanken immer und immer wiederholt. Als sie endlich in ihrem Zimmer war, wühlte sie in ihrer Schreibtischschublade nach einem Kuvert und schrieb sie hastig darauf. Anschließend setzte sie sich auf ihren Schreibtischstuhl und überlegte fieberhaft, wie sie mit dem Brief beginnen sollte. Es war alles so wahnsinnig verworren, und noch dazu fiel es ihr schwer, jemandem zu schreiben, dem sie noch nie begegnet war. Für die ersten Zeilen brauchte sie ewig und in ihrer krakeligen Handschrift spiegelte sich ihre Unsicherheit wider. Doch plötzlich kamen die Worte wie von selbst und Mays Stift flog nur so übers Papier. Sie musste einfach nur bei der Wahrheit bleiben, alles andere machte keinen Sinn.
Sehr verehrter George McCartney,
Sie kennen mich nicht und dennoch muss ich mich in einer dringenden Sache an Sie wenden. Ich versuche, mich so kurz wie möglich zu fassen, aber einige Details sind vonnöten, damit Sie mein Anliegen verstehen können.
Mein Name ist May Flemming. Ich bin eine Bekannte von Jonathan, der Ihnen als Henry geläufig ist. Wann wir uns zum ersten Mal begegnet sind und unter welchen Umständen, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Wichtig ist nur, ich kenne seine Vergangenheit. Ich weiß, wie sehr er Emilia einst geliebt hat und schließlich selbst zum Unsterblichen wurde, um für immer an ihrer Seite bleiben zu können. Ich weiß noch vieles mehr und einige seiner Ansichten und Vorgehensweisen kann ich - aus seiner Perspektive betrachtet - gut nachvollziehen ...
Etwa zeitgleich mit meinem Brief sollten Sie auch ein Schreiben von ihm, von Henry, erhalten, in welchem er Sie verzweifelt um Rat fragt. Er schildert darin den seltsamen Vorfall Dustin und Sarah betreffend. Er hat mir diesen Brief vorgelesen, ich kenne jede einzelne Zeile und weiß, welche Punkte der reinen Wahrheit entsprechen und welche seiner eigenen Fantasie entsprungen sind.
George, ich habe mittlerweile verstanden, dass Sie ein weiser Mann sind, der nicht voreilig urteilt, sondern bemüht ist, die Dinge unvoreingenommen und kritisch zu betrachten. Aber ich fürchte, dass Ihrem Freund Henry eben dieser realistische Blick abhandengekommen ist. Er hat sich aufgrund seiner Gefühle für Sarah und in seinem Hass auf Dustin eine Welt aus Illusionen aufgebaut. Für ihn steht es außer Frage, dass er und Sarah füreinander bestimmt sind, und er ignoriert alle Anzeichen, die dagegen sprechen. Es stimmt, dass Dustin durch Sarahs Blut wieder ein Mensch geworden ist. Und es ist ebenfalls anzunehmen, dass dabei etwas schiefgelaufen sein muss. Ich selbst war bis vor ein paar Jahren eine Unsterbliche - Dustin hat mich zu einer gemacht. Jedoch nicht unüberlegt oder aus Eigennutz, sondern weil wir beide zu unerfahren waren und uns in unserer Liebe zueinander getäuscht haben. Dustin ist nicht so schlecht, wie Jonathan ihn gerne beschreibt, George, das müssen Sie mir glauben. Jedenfalls nicht schlechter als alle anderen, die mit den Verlockungen, den Tücken und dem Fluch der Ewigkeit in Berührung gekommen sind, die daran scheitern und verzweifeln und Dinge tun, die sie unter normalen Umständen niemals tun würden.
Ich hatte das Glück, von meiner wahren Liebe erlöst zu werden. Leider wurde sie mir kurz nach meiner Rückverwandlung auf furchtbare Weise genommen. Dennoch weiß ich, wie wunderbar es sich anfühlt, endlich wieder man selbst zu sein, sich auf einmal wieder vollkommen und lebendig zu fühlen. Lebendig, verstehen Sie, George? Nicht schwach und kraftlos wie Sarah und Dustin, als ihre Herzen gleichzeitig schlugen. Ich habe mich mit Dustin unterhalten und er war ebenso ratlos und verunsichert wie ich, was diese Sache betrifft. Die beiden schienen sich ein Leben teilen zu müssen, sie entzogen sich im gegenseitigen Wechsel Energie. Ein Zustand, der keinem Menschen gerecht wird, der niemanden dauerhaft glücklich machen kann. Deshalb hat sich Dustin dazu entschieden, Sarah ihr Blut zurückzugeben. Er ist freiwillig in die Ewigkeit zurückgekehrt, damit Sarah wieder ganz sie selbst sein kann. Sie wissen, was das bedeutet, George. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie schwer ihm dieser Schritt gefallen sein muss. Aber Dustin ist ihn für Sarah gegangen und hat sich geschworen, Emilia endlich zu besiegen.
Leider befürchte ich, dass niemand gegen sie ankommt. Emilia ist nicht mehr angreifbar, sie scheint mir weiter vom Menschsein entfernt als jeder andere Unsterbliche, den ich kenne. Das macht sie unbesiegbar. Dustin
Weitere Kostenlose Bücher