Blood Sun
hatte Max sich im hinteren Teil des alten viktorianischen Wartesaals herumgedrück t – und gewartet. Dort befand er sich im toten Winkel der Kameras. Falls man nach ihm suchte, würde man die Auswertung der Aufnahmen abbrechen, sobald der Zug abgefahren war.
Er hatte noch zwanzig Minuten länger ausgeharrt und war dann auf den anderen Bahnsteig hinübergegangen. Ein Nahverkehrszug, der über Salisbury zur Londoner Waterloo Station fuhr und in fast jedem Kuhdorf auf der Strecke halten würde, kam langsam in Sicht. Das Sanatorium seines Vaters lag etwas außerhalb von London und dieser Zug würde ihn dorthin bringen.
Jetzt, drei Stunden später, war Max’ Bedürfnis, endlich mehr über den Tod seiner Mutter zu erfahren, unermesslich geworden. Die Gedanken an ihre letzten Stunden hatten ihn nicht mehr losgelassen, seit er zum ersten Mal von den Anschuldigungen gegen seinen Vater gehört hatte.
M r Jackson hatte im St . Christopher’s angerufen, dem Sanatorium, in dem Max’ Vater untergebracht war. Dort hatte man ihn gebeten, es in ein paar Tagen noch einmal zu versuchen. Zurzeit sei der Mann nicht in der Verfassung, seinen Sohn zu empfangen.
Diese Information hatte der Rektor bestimmt weitergegeben, falls jemand ihn nach Tom Gordons Befinden gefragt hatte, und Max damit ein wenig Vorsprung verschafft. Aber es waren ja nicht nur die Behörden hinter ihm her. Die Killer vom Moor liefen immer noch frei herum. Die waren nicht so leicht abzuschütteln. Sein Dad hatte ihm oft von solchen Männern erzählt. Für sie sei Gewalt etwas ganz Selbstverständliche s – sie könnten gar nicht anders. Mit solchen Mördern könne man nicht verhandeln.
Du bist kein Verbrecher, Max. Du kämpfst nicht, weil du dich nicht unter Kontrolle hast. Du weißt, wann du zuschlagen musst. Du kannst es an ihren Augen ablesen. Und dann, Gott steh dir bei, musst du es tun. Du wirst es ihnen ansehen, wenn sie dich töten wollen.
Sein Dad.
Gleich war er da. Der Knoten in seinem Magen zog sich zusammen. Weder am Tor noch auf der Zufahrt oder an der Eingangstür der alten Villa war etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Max setzte das kleine Fernglas ab. Alles wirkte normal, aber die Killer gaben ganz sicher nicht so leicht auf. Er musste damit rechnen, dass hier irgendwo jemand war und den Haupteingang beobachtete.
Er sah auf seine Armbanduhr und fuhr sich unwillkürlich übers Gesich t – die Uhr war auf dem höchsten Punkt der Welt gewesen. Sein Dad hatte sie getragen, als er den Mount Everest bestiegen hatte. Die Aufgabe, die Max nun vor sich hatte, war mindestens so beängstigend wie dieser Aufstieg. Konzentrier dich! Er blickte sich um, suchte nach Schatten, in denen ein Beobachter verborgen sein konnte. Den Tagesablauf seines Dads kannte er auswendig. Nur wenn die Betreuer sich an einen exakten Zeitplan hielten und jeder Tag gleich verlief, konnten sie hoffen, den zerrütteten Geist eines Menschen zu retten.
Die Patienten wurden gut versorgt. Manche von ihnen waren, weil sie für die Regierung gearbeitet hatten, besonderen Gefahren ausgesetzt gewesen. Max erinnerte sich an einen Spaziergang mit seinem Dad im Park des Sanatoriums. Wie aus alter Gewohnheit hatte sein Vater sich ständig wachsam umgesehen. Die lassen dich nicht immer zu mir. Siehst du diese Ecke? Wo die Blickwinkel der beiden Kameras sich unter dem Baum bei der Mauerecke überschneiden? Das ist ein toter Winkel. Es gibt immer einen Weg. Vergiss das nicht!
Max stieg auf einen Vorsprung und schwang sich über die drei Meter hohe Mauer. In einiger Entfernung sah er ein paar Leute, die an diesem späten Nachmittag in der Sonne saßen oder über das Gelände schlenderten. Andere saßen mit einer Decke auf den Beinen im Rollstuhl.
Ohne die diagonal ausgerichteten Überwachungskameras aus den Augen zu lassen, huschte Max unter den tief hängenden Ästen der Bäume entlang und hoffte, alles behalten zu haben, was sein Vater ihm über das Anschleichen beigebracht hatte. Er drückte sich an einen dicken Baumstamm und mahnte sich zur Geduld.
Dann sah er seinen Dad. Max’ Herz begann laut zu klopfen.
Neben der drahtigen Gestalt seines Vaters lief ein zweiter Mann, der größer und kräftiger gebaut war. Sie joggten locker um das Gelände herum. Der ehemalige Marinesoldat Marty Kiernan war einen Meter dreiundachtzig groß und hundertzwölf Kilo schwer. Als Sanitäter hatte er in Kriegsgebieten Verwundete gerettet, aber in Afghanistan hatte es ihn dann selbst erwischt. Der von zwei
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