Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
besuchte, durfte ich im Backstage-Bereich erleben. Das hat allerdings nicht immer mit meinem Rollstuhl zu tun, sondern damit, dass Musik schon lange in mein Leben gehört und ich durch einige Fügungen und Freunde den einen oder anderen Musiker und Künstler kenne. Ich selbst spiele für mein Leben gern Gitarre. Mein Bruder ist begabt am Klavier.
Wenn der Backstage-Bereich nicht zugänglich war, habe ich mir einen größeren freien Platz in der Halle gesucht. Wäre das nicht möglich gewesen, hätte ich vermutlich auf so einer Behindi-Tribüne stehen müssen. In den Arenen dieser Welt gibt es fast immer eine Behindertenabteilung im ersten Rang. Ein Käfig voller Narren sozusagen. Da wollte ich nie landen. Bitte nicht auf diesem Präsentierteller, der 1,20 Meter über dem Boden schwebt und wo letztendlich doch alle neugierigen Blicke hinwandern, weil diese Tribüne wie eine Ausstellung von Freaks wirkt. Die Behinderten werden ab in die komfortable Ecke geschickt und damit »integriert«, aber richtig »dabei« sind sie doch nicht. Ich mag das nicht. Ich will mitmischen, mitsingen, mitklatschen und mittanzen. Eben mittendrin sein!
Konzerte sind aber für mich immer ein Wagnis, ganz besonders dann, wenn ich den Künstler nicht persönlich kenne, wie etwa Robbie Williams. Hockenheimring, neunzigtausend Menschen und geschätzte fünfzehntausend Dixi-Klos, von denen nur eine Handvoll für Behinderte vorgesehen war. »Bloß nicht zu viel trinken!«, sagte ich zu meiner Begleitung und meinte damit mich selbst. Die Behindertentribüne war bei diesem Konzert eine lang gezogene Rampe, die auf ein Plateau führte, von dem man – das war der Knaller dieses Konzertes – NICHTS sah. Hey, dachte ich, ich sitze vielleicht im Rollstuhl, aber ich bin nicht blind! Ein halbwegs
guter Blick auf Bühne und Künstler wäre doch wohl angemessen. Die Tribüne war riesig und etwa für 100 Rollstuhlfahrer vorgesehen. So viele waren aber nicht gekommen und die 20 oder 30, die mit mir auf der Tribüne standen, sahen völlig verloren aus, obwohl ja alle Begleitpersonen hatten. Da kommt Stimmung auf, wenn sich unten alles tummelt, und man selbst steht abseits herum wie ein einsamer Pilz im Wald. Ein bisschen mehr Gemeinschaft wäre toll gewesen – obwohl ja eine gewisse Beinfreiheit auch nicht zu verachten ist. Kleiner Scherz.
Halten wir also fest: eine Hand voll Behindertenklos, riesige Tribüne, Ausblick auf lauter Hinterköpfe – sehr sexy –, und Robbie Williams, der große Star, tanzte Hunderte Meter von mir entfernt wie ein kleines Legomännchen auf der Bühne herum, erkennbar für mich nur dank einer großen Video-Leinwand. Ich konnte also kein wirkliches Konzertgefühl aufbauen, und der Mann im Rolli neben mir sicher auch nicht, obwohl er mit einem Feldstecher ausgerüstet war. Das ist kein Genuss. Dafür gebe ich nicht gern mein Geld aus.
Am liebsten habe ich Konzerte, wenn ich in der ersten Reihe stehe. Dann habe ich die Gemeinschaft mit den Füßlern, die neben mir sitzen, und kann gleichzeitig etwas sehen. Aber nicht bei allen Konzerten ist das machbar. Zudem kann es in der ersten Reihe auch gefährlich werden. Nehmen wir mal an, es kommt zu einer Massenpanik. Wenn da jemand von hinten schiebt und du hast dann auf einmal das Gitter vor der Nase, dann ist Endstation. Da kommst du nicht mehr raus. Zumindest habe ich noch nie gesehen, wie ein Rollstuhlfahrer über das Absperrgitter gezerrt wurde, damit er nicht verloren geht. Insofern ist Sicherheit bestimmt ein Aspekt, warum es Tribünen und abgesteckte Behindi-Bereiche gibt. Der Inklusionsgedanke
bleibt dabei allerdings auf der Strecke. Es sei denn, man baut einen Konzertsaal, in dem es zwanzig Rollstuhltribünen gibt, die einfach wahllos im Raum verteilt werden. Das wäre Inklusion – inklusive Sicherheit –, wenn alles gemischt ist. Eine einzelne Tribüne ist nur Integration, das reicht noch nicht!
Tendenziell mit Fragezeichen versehen sind Konzerte unter freiem Himmel, da die Örtlichkeiten nicht unbedingt behindertengerecht präpariert werden. Ein Konzert ist für mich ja nicht nur ein Hörgenuss, es müssen viele Faktoren stimmen, damit ich das Event wirklich genießen kann. Wenn Max etwa mit mir auf den Mannheimer Schlossplatz will, na dann ein dreifach Halleluja! Der Platz ist übersät mit Kopfsteinpflaster, also muss ich permanent auf den Boden glotzen, weil ich Angst habe, sonst zu stolpern und aus der Karre zu fliegen, weil vielleicht ein Stein quer liegt
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