Blüte der Tage: Roman (German Edition)
und nahm einen Schluck. »Sie macht aber keine Arbeit, bei der sie schwer heben muss oder mit Giften in Berührung kommt, oder?«
»Natürlich nicht. Zurzeit kümmert sie sich um die Zwiebelgewächse.«
»So, das hätten wir.« Er reichte ihr die Diskette.
»Danke, Harper, das erleichtert mir einiges. Ich habe noch nie einen Weihnachtskaktus veredelt.« Sie schob die Diskette in ihr Klemmbrett. »Darf ich zusehen?«
»Klar. Wollen Sie es selbst versuchen? Ich sage Ihnen, wie es geht.«
»Oh, das wäre toll.«
»Ich werde es Ihnen an diesem hier demonstrieren. Sehen Sie, ich schneide einen etwa sechs Zentimeter großen Trieb ab, direkt durch das Gelenk. Und während ich mir nebenbei fast den Daumen abgesägt hätte ...«
»Entschuldigung.«
»Wäre nicht das erste Mal. Jedenfalls habe ich dabei diesen feinen, vertikalen Schnitt in die Leitbündelringe gemacht.«
»So weit habe ich es kapiert.«
»Nun schälen wir die Haut am unteren Teil des Reisers in feinen Spänen ab, spitzen das Ende an und legen das Innere frei.« Während er erklärte, vollführte er die einzelnen Schritte mit geübten Handgriffen. »So, sehen Sie?«
»Sie sind unglaublich geschickt.«
»Das habe ich wohl von meiner Mutter geerbt. Sie hat mir das Pfropfen beigebracht. Als ich in Lukes Alter war,
haben wir eine Zierkirsche veredelt. So, jetzt werden wir das Reis in den Spalt der Unterlage einsetzen. Die beiden Kambiumschichten müssen genau aufeinander liegen. Ich verwende zum Fixieren gern einen langen Kaktusdorn.« Er nahm einen Dorn vom Tablett und schob ihn direkt in die Pfropfung.
»Organisch und ordentlich.«
»Mm. In diesem Fall verwende ich keinen Raffiabast. Lockere Wäscheklammern sind besser. Direkt über dem Gelenk, damit der Pfröpfling gut hält, aber nicht zu fest. Als Erde nehme ich zu zwei Teilen Kaktuserde und zu einem Teil feinen Sand. Ich habe die Mischung bereits fertig. Jetzt topfen wir unser Baby ein und streuen auf die Oberfläche etwas feinen Kies.«
»So bleibt es feucht, aber nicht nass.«
»Genau. Nun braucht man nur noch ein Namensetikett und einen hellen Standort ohne direkte Sonnenbestrahlung. In wenigen Tagen sollten sich beide Pflanzen vereint haben. Was ist, wollen Sie es mal versuchen ?«
»Gern.« Sie nahm auf seinem Stuhl Platz und machte sich, begleitet von seinen Instruktionen, ans Werk. »David hat mir heute Morgen von dem unsichtbaren Mitbewohner erzählt.«
»Gut so«, sagte er, den Blick auf ihre Hände und die Pflanze konzentriert. »Ähm, was sagten Sie eben? Mitbewohner ?«
»Na, der Hausgeist. Sie wissen schon, hu-hu.«
»Ach ja, die Blonde mit den traurigen Augen. Als ich ein Kind war, hat sie mir oft vorgesungen.«
»Ja, ja. Und die Erde ist eine Scheibe, was, Harper?«
Achselzuckend nahm er einen Schluck Cola. »Sie
auch?« Er tippte auf die Dose. »In der Kühltasche habe ich noch mehr.«
»Nein, aber trotzdem vielen Dank. Sie behaupten also, ein Geist habe Sie besucht und Ihnen vorgesungen.«
»Ja, bis ich zwölf, dreizehn war. Bei meinen Brüdern war es genauso. Sobald die Pubertät einsetzte, ist sie nicht mehr gekommen. Jetzt müssen Sie das Reis zuspitzen.«
Sie hielt kurz inne und sah ihn prüfend an. »Harper, betrachten Sie sich denn nicht als Wissenschaftler?«
Er lächelte sie mit seinen verträumten braunen Augen an. »Nicht unbedingt. Natürlich ist meine Arbeit zum Teil auch eine Wissenschaft und unterliegt den Naturgesetzen. Aber in erster Linie bin ich einfach nur ein Gärtner.«
Er warf die Coladose in den Abfalleimer und bückte sich dann, um aus der Kühltasche eine neue Dose zu holen. »Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass sich Wissenschaft und paranormale Phänomene nicht ausschließen müssen. Wissenschaft bedeutet ja Erforschen, Experimentieren, Entdecken.«
»Dagegen lässt sich nichts sagen, aber ...«
Mit einem Zischen riss er die Dose auf. »Sie wagen es, mir zu widersprechen?«
Sie musste lachen. »Es ist eine Sache, wenn ein kleiner Junge an Geister glaubt oder an den Weihnachtsmann oder an ...«
»Wollen Sie behaupten, dass es keinen Weihnachtsmann gibt?« In gespieltem Entsetzen starrte er sie an.
»Doch es ist eine gänzlich andere Sache«, fuhr sie unbeirrt fort, »wenn ein erwachsener Mann daran glaubt.«
»Sie bezeichnen mich als erwachsenen Mann? Igitt! Ich glaube, ich muss Sie des Hauses verweisen, Stella.« Er tätschelte ihr mit seiner von Erde verklebten Hand die Schulter und wischte dann unbekümmert die Erdkrumen
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