Blut und rote Seide
gesehen kein Mord.«
»Stimmt«, bestätigte Chen und fragte sich, warum Fan zu dieser Rechtfertigung ausholte.
»Was die Namensänderung des Sohnes anbelangt, so könnten Sie übrigens recht haben. Er wollte die Vergangenheit hinter sich lassen. Deshalb hat er auch die Villa verkauft und ist nie mehr zurückgekommen.« Fan hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Ich habe nichts für Mei getan, und ich weiß nicht, ob Sie das, was ich Ihnen erzählt habe, jetzt gegen den Sohn verwenden.«
»Bisher ist es lediglich eine Theorie. Und was Sie mir erzählt haben, wird niemals gegen ihn verwendet werden.« Chen beschloß, daß dies immerhin teilweise zutraf. »Die Leiden eines Kindes in jenen Jahren sind kein Verbrechen.«
»Danke, daß Sie das sagen, Oberinspektor Chen.«
»Ich muß Sie darum bitten, mir diese Aufnahmen für einige Tage zu überlassen. Sie werden nicht in falsche Hände geraten, das verspreche ich. Sobald ich sie nicht mehr brauche, bekommen Sie sie zurück.«
»Ja, natürlich.«
»Danke, Genosse Fan. Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken«, sagte Fan. »Ich hätte längst etwas unternehmen sollen. Ich bin es, der zu danken hat.«
27
ZUM ERSTEN MAL HATTE Chen das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein.
Nachdem Fan gegangen war, rief er in Jias Kanzlei an. Eine Sekretärin meldete sich und teilte ihm mit, Jia sei erst am Nachmittag wieder erreichbar. Das war Chen gar nicht so unrecht. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
Beim Wohnungsamt der Distriktverwaltung erkundigte er sich nach den Unterlagen für den Verkauf des Alten Herrenhauses. Dabei interessierten ihn vor allem der Name des Verkäufers und dessen verwandtschaftliche Beziehung zu den Vorbesitzern. Der Beamte versprach, die gewünschten Informationen sofort herauszusuchen. Bei Direktor Zhong wollte Chen vorerst keine weiteren Erkundigungen über Jia einholen.
Zunächst würde er sich ein Bild über Jias derzeitige Situation machen; alles, was er bisher über ihn wußte, lag mehr als zwanzig Jahre zurück. In dieser Nacht würde sich alles entscheiden, Chen durfte keinen Fehler machen.
Er rief den Kleinen Zhou, seinen Chauffeur, an und bestellte ihn vor das Alte Herrenhaus.
Dann schlenderte er zu dem Lokal hinüber, das am hellen Morgen völlig verändert wirkte. Ohne die Neonlichter und die hübsche Empfangsdame sah es aus wie ein Wohnhaus.
Während er die Zigarette zu Ende rauchte, erwog er, bei seinem Freund, dem Überseechinesen Lu, anzurufen, doch da fuhr bereits der Dienstwagen vor.
»Kennen Sie das Goldene Zeiten?« erkundigte sich Chen beim Kleinen Zhou.
»Das Badehaus in der Puming Lu? Hab davon gehört.«
»Fahren Sie mich hin. Ach, und vorher müssen wir noch bei einer Bank vorbei. Ich brauche Bargeld.«
»So was kann gemein teuer werden«, bemerkte Kleiner Zhou und ließ den Wagen an, ohne Chen über die Schulter anzusehen.
Dieser bemerkte allerdings, daß der Chauffeur des Präsidiums ihn im Rückspiegel musterte. Ein vormittäglicher Besuch im Badehaus war ungewöhnlich, ganz zu schweigen von seiner unerklärten Abwesenheit während der vergangenen Woche.
Der Verkehr war katastrophal. Sie brauchten eine Dreiviertelstunde bis zu dem Badehaus im Stil eines pompösen Kaiserpalasts. Auf dem Parkplatz standen bereits zahlreiche Autos.
»Ich werde den Wagen vermutlich den Tag über benötigen, Kleiner Zhou. Könnten Sie hier auf mich warten?«
»Aber natürlich«, sagte der Chauffeur eilfertig. »Ich weiß, es ist wichtig.«
Am Eingang fragte Chen nach Xia.
»Ja, die ist hier«, teilte eine junge Frau ihm nach einem Blick auf ihre Armbanduhr mit. »Im Restaurant im zweiten Stock.«
Wie Weiße Wolke vermutet hatte, war Xia Teilhaberin der Wellness-Anlage. Sie war für den Bereich Public Relations und Unterhaltung zuständig und organisierte die Modenschauen während des Mittag- und Abendessens.
Chen mußte das Eintrittsgeld entrichten und einen der hauseigenen Pyjamas sowie Plastikschlappen anziehen, bevor man ihn nach oben ließ. Aus seiner Identität als Polizist machte er dabei keinen Hehl.
Als sich die Aufzugtür im zweiten Stock öffnete, sah er Xia an einem Tisch vor der Bühne im hinteren Teil des Restaurants sitzen. Sie trug ebenfalls einen der Hauspyjamas und war umringt von mehreren jungen Frauen, denen sie mit der Miene einer erfolgreichen Unternehmerin Anweisungen gab.
Kaum eine dieser jungen Damen würde jedoch so viel Glück haben wie Xia. In einem Tang-Gedicht hieß
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