Blut und rote Seide
es: Ein erfolgreicher General erhebt sich aus den Skeletten zahlloser Soldaten. Chen mußte an die Opfer des Serienmörders denken.
Statt zu dem Tisch hinüberzugehen, gab Chen einer Bedienung seine Karte mit der Bitte, sie Xia zu bringen. Diese erhob sich sofort und kam zu ihm herüber.
»Als ich Sie kommen sah, fühlte ich mich, noch ehe ich Sie erkannte, an den weißen Kranich im Hühnerhof erinnert«, begrüßte sie ihn. Dann ergriff sie seine Hand und führte ihn zu einem Tisch. »Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen, Oberinspektor Chen. Sie müssen heute unser Ehrengast sein.«
»Das Ihre ist noch viel häufiger in der Presse, und im Fernsehen habe ich Sie auch schon gesehen«, erwiderte er. »Entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch, aber ich muß mit Ihnen reden.«
»Mit mir, Oberinspektor Chen?« Sie sah ihn überrascht an.
»Ja, jetzt gleich.«
»Das kommt ein wenig ungelegen. Ich muß mich um die Modenschau für eine Geburtstagsparty kümmern, die bald beginnt.«
Bei solchen Modenschauen ging es vermutlich weniger um Bekleidung als vielmehr um die Körper, die diese nur spärlich bedeckte. Und bei einer Geburtstagsparty würde Xia vermutlich besondere Gästen zu betreuen haben.
»Werden Sie selbst auch auf dem Laufsteg erscheinen?«
»Nicht unbedingt.«
»Wenn es nicht so dringlich wäre, hätte ich mich angemeldet«, sagte er mit einem Blick auf die Bühne. »Vielleicht können wir uns während der Show unterhalten.«
Sie zögerte. Die Mädchen standen in respektvoller Entfernung, bereit, ihre Anweisungen entgegenzunehmen. Die Band improvisierte bereits eine gefällige Melodie. Kein guter Ort für ein ernstes Gespräch.
»Sie werden die Show wohl kaum mitverfolgen wollen«, sagte Xia. »Wie wäre es, wenn Sie sich in einem der VIP-Räume ein wenig ausruhen. Ich komme dann zu Ihnen, sobald die Sache hier läuft.«
»Schön. Ich warte auf Sie.«
Eine junge Frau führte ihn in ein spärlich beleuchtetes Zimmer mit angrenzendem Bad im ersten Stock. Dort standen zwei mit weißen Handtüchern abgedeckte Sofas, dazwischen ein niedriger Tisch. An einem Kleiderständer hingen weiße Frotteebademäntel. Einfach, aber gemütlich. Die junge Frau ließ ihn allein.
Im Zimmer war es warm, und sobald er sich auf der Couch niedergelassen hatte, wurde er schläfrig. Vielleicht würde eine Dusche ihn erfrischen, dachte er, zog den Pyjama aus und stellte sich unter die Brause.
Doch anschließend fühlte er sich schwach und ein wenig schwindelig. Er hinterließ eine telefonische Nachricht für Yu und bat ihn, ins Goldene Zeiten zu kommen, sobald er im Stahlwerk fertig wäre.
Dann legte er sich auf eines der Sofas. Leise Musik tröpfelte wie von fern aus einem Lautsprecher und erinnerte ihn an die Tempelgesänge seiner Kindheit. Unwillkürlich schlief er ein.
Er erwachte von dem Gefühl, daß jemand sich im Zimmer befand. Xia, in einem der weißen Bademäntel, bewegte sich auf nackten Füßen über den weichen Teppich. Ihr Haar war noch naß, offenbar hatte sie gerade geduscht. Sie setzte sich auf die Sofakante und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Sie sehen müde aus«, sagte sie. »Ich werde Ihnen die Schultern massieren.«
»Entschuldigung. Ich wollte nicht …« Er ließ den Satz unvollendet. Es hätte keinen Sinn, ihr zu erklären, daß er letzte Nacht nicht geschlafen hatte.
»Ihr Freund Gu hat oft von Ihnen erzählt«, sagte sie und fuhr mit den Fingern sanft über seine Schultern, »und von der wertvollen Unterstützung, die Sie seinem Geschäft angedeihen ließen.«
Das also war der Grund für ihre großzügige Gastfreundschaft. Er hatte den Anlaß seines Besuches bisher nicht genannt, daher mußte sie annehmen, daß er in Zusammenhang mit ihrem Etablissement stand. Ein Polizist konnte einem solchen Badehaus mit all seinen Séparées und Masseusen jede Menge Schwierigkeiten machen. Andererseits konnte er aber auch, wie Gu es ausdrückte, »wertvolle Unterstützung« bieten.
»Herr Gu übertreibt gern«, entgegnete er. »Sie dürfen ihm nicht alles glauben.«
»Wie ich höre, waren Sie ihm bei seinem New-World-Projekt behilflich?«
Geschichten über seine Freundschaft mit diesem Aufsteiger schadeten zwar Chens Ruf, doch im Moment würde er sie besser in ihrem Glauben belassen. Schließlich konnte er ihre Kooperation nicht erzwingen.
»Danke für die Massage. Gefälligkeiten von einer Schönen anzunehmen fällt schwer – zumal wenn sie gleichzeitig eine vorbildliche Unternehmerin
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