Blut und rote Seide
auf die Angaben zu Jias Privatleben, die aus jüngerer Zeit stammten.
Auch hier war wenig zu erfahren. Vielleicht weil Jia sich trotz seines Engagements für kritische Rechtsfälle bedeckt gehalten hatte. Es war bekannt, daß die US-amerikanischen Aktien, die sein Vater ihm hinterlassen hatte, mehrere Millionen wert waren, was Jia zu einem der begehrtesten Junggesellen der Stadt machte. Um so auffälliger war sein hartnäckiges Junggesellenleben. Er hatte eine Freundin gehabt, ein Model namens Xia, von der er sich allerdings mittlerweile getrennt hatte. Sie war etwa fünfzehn Jahre jünger als er.
Einem spontanen Impuls folgend, griff Chen zum Mobiltelefon und wählte die Nummer von Weißer Wolke.
»Kennen Sie eine Frau namens Xia aus dem Unterhaltungsgewerbe? Sie hat vorher als Model gearbeitet.«
»Xia … das könnte Xia Ji sein. Ich kenne sie nicht persönlich, aber in den einschlägigen Kreisen ist sie ziemlich bekannt«, erklärte Weiße Wolke. »Mittlerweile ist sie Teilhaberin des Badehauses Goldene Zeiten. Ihre Erfolgsstory ist stadtbekannt. Haben Sie tatsächlich nie von ihr gehört?«
Chen erinnerte sich dunkel, Jias Freundin doch schon begegnet zu sein. Ihr Name, der in einem Wort gelesen »Sommer« bedeutete, kam ihm bekannt vor. Es mußte beim Schönheitswettbewerb »Körper, Geist und Seele« gewesen sein, den die New World Corporation ausgerichtet hatte. Gu hatte ihn in seiner Eigenschaft als Dichter in die Jury gebeten, was er schlecht hatte ablehnen können. Auch Xia war unter den Schiedsrichtern gewesen. Sie hatten damals kaum miteinander gesprochen und waren sich seither nicht wieder begegnet.
»Danke, Weiße Wolke. Ich melde mich später wieder«, beendete er das Gespräch, als er Fan mit einem Umschlag in der Hand zurückkommen sah.
»Genosse Fan, könnten Sie mir noch einmal sagen, wie der Junge genau hieß?«
»Xiao Zheng oder Zheng, also Ming Zheng oder Ming Xiaozheng. Ich weiß nicht mehr, welches ›Zheng‹ es war, aber ›Xiao‹ war mit Sicherheit die Verkleinerungsform, die seine Mutter gern benutzte.«
»Ja, meine Mutter sagt heute noch manchmal Xiao Cao zu mir.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Oberinspektor Chen?«
»Chinesische Namen haben ja auch eine Bedeutung. Jia Ming zum Beispiel heißt auch ›fiktiver‹ oder ›falscher Name‹. Dementsprechend könnte Ming Zheng, zumindest der Aussprache nach, auch der ›wirkliche Name‹ sein.«
»Ja und?«
»Womöglich hat der Junge seinen Namen geändert, in Jia Ming zum Beispiel. Er will damit ausdrücken, daß dies der falsche oder fiktive Name eines Nachfahren der Ming-Sippe ist. Wäre das einleuchtend?«
»Kaum ein Chinese würde seinen Familiennamen ändern, aber im Fall von Meis Sohn wäre das vorstellbar. Die Vergangenheit war einfach zu schmerzlich für ihn. Und das Pseudonym transportiert eine weitere Botschaft; es könnte bedeuten, daß derjenige mit dem ›fiktiven‹ Namen seine wahre Identität vor der Öffentlichkeit verbirgt. Aber wer ist dieser Jia Ming?«
»Augenblicklich ist das alles reine Vermutung.« Chen, der noch nicht zu viel preisgeben wollte, wechselte rasch das Thema. »Ah, Sie haben die Fotos gefunden.«
Fan legte einen Stoß Schwarzweißaufnahmen auf den Tisch. Sie zeigten Mei aus unterschiedlichen Blickwinkeln, einige der Nahaufnahmen waren verwackelt.
Trotz ihrer schlechten Qualität waren die Fotos schockierend; eine Tote, die nackt und verlassen auf dem grauen Betonboden lag. Vor Chens geistigem Auge wurden diese Bilder überlagert von Mei im roten qipao , den kleinen Sohn an der Hand …
In der Poesie kann aus der Überlagerung zweier Bilder ein neues entstehen. Noch sah Chen es nicht genau vor sich, doch er wußte, daß es existierte.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Genosse Fan.«
»Ich habe diese Aufnahmen als Polizist gemacht«, erklärte Fan aus einem plötzlichen Gefühl der Peinlichkeit heraus. »Mir wurde jedoch bald klar, daß es keine Ermittlungen geben würde. Wer wollte sich damals für eine ›Schwarze‹ einsetzen? Außerdem war mir höchst unwohl bei dem Gedanken, diese Bilder herumzureichen.«
»Sie sind ein Mann mit Prinzipien«, sagte Chen. »Ich bin froh, Sie kennengelernt zu haben.«
»Nach der Kulturrevolution habe ich erwogen, den Fall wieder aufzurollen. Aber die Regierung propagierte den ›Blick nach vorn‹. Was konnte ich schon ausrichten – ohne Beweise und Zeugen? Und selbst wenn Tian die Schuld an Meis Tod trug, so war es rein technisch
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