Blutberg - Kriminalroman
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie außer dem schwachen metallischen Geruch des Gesteins und dem noch schwächeren Ölgeruch des Ungetüms, auf dem sie saßen, keinerlei Gerüche wahrgenommen. Der Gestank, der ihr jetzt in die Nase drang, war sehr viel unangenehmer, aufdringlicher und penetranter.
»Was ist?«, fragte Ricardo.
»Dieser Geruch, dieser … Gestank. Woher kommt der eigentlich?«
Ricardo lächelte matt und wies auf eine im Schatten liegende Stelle etwas weiter vorn im Stollen, ganz in der Nähe des Triebwagens.
»Da, wo der Schatten ist, wurde eine kleine Nische gesprengt, eigentlich sogar eine richtige kleine Höhle. Dort werden später automatische Messgeräte und Sperrvorrichtungen
und noch einige andere technischen Einrichtungen sein. Aber im Augenblick ist dort die Latrine.«
Einen Augenblick überlegte Katrín, ob das ein blöder Witz von Ricardo war, doch der Geruch überzeugte sie bald, dass er es ernst gemeint hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse.
»Was … und warum …?«
»Was soll man sonst machen?«, fragte Ricardo achselzuckend. »Dieser Bohrer muss plangemäß tagein, tagaus in Aktion sein, rund um die Uhr. Er darf nicht stoppen. Wir haben hier drinnen keine Reservemannschaft, wenn er arbeitet, das ist eine gefährliche und schmutzige Arbeit. Alle die hier sind, müssen hier sein. Immer. Sie fahren nicht einmal zur Mittagspause hinaus, das Essen bekommen sie hierher geschickt. Die Schichten dauern jeweils zwölf Stunden, und es sind acht Kilometer bis zum Ausgang, bis zu einer Toilette. Also wenn die Leute mal, wenn sie … Sie wissen schon …«
»Scheiße«, entfuhr es Katrín aus tiefster Seele.
»Genau«, sagte Ricardo etwas verlegen.
»So habe ich das nicht gemeint«, setzte Katrín an, ersparte sich dann aber weitere Richtigstellungen und beschloss, wieder zur Sache zu kommen. »Was ich sagen wollte war, dass ich nicht verstehe, wieso sich Ihre Lage dadurch ändert, dass di Tommasso und Barei tot sind. Hätten Sie nicht dieselben Konditionen bekommen, wenn sie noch lebten?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
Ricardo rieb sich müde die Schläfen. »Das ist sehr kompliziert. Wenn di Tommasso eine Beschwerde eingereicht hätte und sie geprüft würde …«
»Dann hätte es damit geendet, dass Sie gefeuert würden? Haben Sie mit anderen Worten hier Mist gebaut?«
»Nein, ich habe keinen Mist gebaut!« Beide fuhren zusammen,
als seine Worte mit vielfacher Stärke widerhallten. » Scusi , Signora«, sagte Ricardo leise, aber viel Entschuldigung klang in seiner Stimme nicht mit. »Ich habe nichts zu fürchten, überhaupt nichts.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Bohrkopfs. »Dieser ganze Schlamassel hier, diese Verwerfung, die Verwerfung in der Schlucht, die Lecks in anderen Stollen, all diese Verzögerungen und all dieser Kram, das ganze Theater mit den Gewerkschaften und den Leiharbeitern - alles, buchstäblich alles ist die Folge von dem, was gemacht beziehungsweise nicht oder nur unzulänglich gemacht wurde, bevor ich einstieg. Mehr oder weniger alles Sachen, die man mit besserer Vorbereitung hätte verhindern oder zumindest voraussehen können.«
»Besserer Vorbereitung von welcher Seite?«
»Von allen. Von euch Isländern, meine ich, und von uns bei Impregilo. Die Geologie war eure Angelegenheit, wir hätten uns besser um die anderen Bereiche kümmern müssen. Um die gesetzlichen Regelungen und die Tarifverträge.«
»Hm«, murmelte Katrín. »Ich verstehe trotzdem nicht …«
»Begreifen Sie doch«, erklärte Ricardo, jetzt wieder ziemlich ungeduldig und gereizt, »das ist nicht meine Schuld. Aber so eine Untersuchung braucht ihre Zeit. Sie ist lästig, schwierig und unangenehm. Ich hatte die Wahl, sie ein weiteres Mal über mich ergehen zu lassen, und zwar so lange, bis, wie sagt man das noch, bis mein Ruf wiederhergestellt sein würde. Hätte ich mich darauf eingelassen, wäre ich gezwungen gewesen, noch viele Wochen, vielleicht sogar Monate hierzubleiben, zumindest für die Zeit der Kündigungsfrist. Und auch wenn wieder nichts dabei herauskommen würde, irgendetwas bleibt doch hängen. Das passiert jetzt schon zum zweiten Mal, da kommen die Leute auf Gedanken, sie kriegen ihre Zweifel, verstehen Sie?« Katrín ging mit einem zustimmenden Kopfnicken auf seine Argumentation ein.
» Bene . Aber ich hatte die Möglichkeit, sofort aufzuhören. Doch dann taucht dieser Barei plötzlich hier auf«, fuhr Ricardo fort, während er mit seinem
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