Bluternte: Thriller
»Ich warte nur noch auf einen Anruf von DI Neasden, dass sie in Gewahrsam genommen wurde. Solange der Pflichtpsychiater nicht anwesend ist, werden wir sie nicht vernehmen können, aber zumindest wissen wir dann, dass sie dem Jungen nichts antun kann.«
»Gillian?«, fragte Alice. »Hayley war doch ihre Tochter.«
»Sie wäre nicht die erste Mutter, die ihr eigenes Kind umbringt«, erwiderte Rushton. »Beileibe nicht. Um ehrlich zu sein, ich war auch skeptisch, als Dr. Oliver angerufen hat. Ich bin auch immer noch nicht hundertprozentig überzeugt, aber es gibt genug Fragen, die beantwortet werden müssen.« Er nickte Evi zu. »Machen Sie weiter, Kindchen«, sagte er. »Sie können das besser schildern als ich.«
Evi schaute auf die Tischplatte hinunter, dann blickte sie wieder auf. »Ich mache mir schon seit einer ganzen Weile Sorgen um Gillian«, sagte sie, und die Worte schienen nur widerstrebend hervorzukommen, als fiele es ihr sogar jetzt noch schwer, gegen die Schweigepflicht zu verstoßen. »Ich wusste, dass es da vieles gab, was sie mir nicht erzählt hat, und ich wusste auch, dass in ihrem Kopf mehr vor sich geht als nur Trauer. Aus einigem von dem, was sie gesagt hat, und aus dem Verhalten, das sie an den Tag legt, habe ich auf Kindsmissbrauch geschlossen. Doch das erste wirklich besorgniserregende Zeichen war, dass sie gelogen hat, was Hayleys Tod betrifft. Sie hat mir und anderen erzählt, Hayleys Leichnam wäre nicht gefunden worden, er wäre einfach im Feuer verschwunden. Das war nicht wahr. Die Feuerwehr hat menschliche Überreste gefunden.«
»Die nicht von Hayley stammten«, meinte Harry. »Hayley ist aus dem Haus geschafft worden, bevor das Feuer ausgebrochen ist.«
»Richtig«, bestätigte Evi. »Aber woher hätte sie das wissen können, wenn sie nicht selbst daran beteiligt war? Ich glaube, Gillians Weigerung, zu akzeptieren, dass es Hayleys sterbliche Überreste waren, war ihre Art, mit Schuldgefühlen umzugehen.«
»Okay, aber das allein reicht nicht«, gab Harry zu bedenken. Er blickte zu Rushton auf und versuchte, in der Miene des Älteren zu lesen.
Evi nippte abermals an ihrem Glas. »Nein, das reicht nicht«, bestätigte sie. »Aber ich habe mich im Laufe der letzten Woche oder so auch mit ihrer Mutter unterhalten. Gillians Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie drei war. Sie hat auch im Wagen gesessen. Verletzt war sie nicht, aber als die Polizei sie herausgezogen hat, war sie von oben bis unten mit dem Blut ihres Vaters beschmiert.«
»Großer Gott«, murmelte Gareth halblaut.
»Nun ja, genau. So etwas hinterlässt bei jedem Kind seelische Schäden. Gillians Mutter hat wieder geheiratet und – ich habe keinerlei Beweise dafür, aber ich glaube, Gillian ist von ihrem Stiefvater missbraucht worden, als sie noch sehr jung war. In ihrer frühen Krankengeschichte finden sich Misshandlungssymptome wie aus dem Lehrbuch, und die Art und Weise, wie sie von ihm spricht, ist sehr abwertend und voller sexueller Anspielungen. Ich musste bei meinen Gesprächen mit Gwen sehr vorsichtig sein. Natürlich konnte ich sie nicht rundheraus fragen, ob Gillian missbraucht worden sei, aber ich konnte Andeutungen machen. Da war irgendetwas, da bin ich mir ganz sicher. Gwen weiß mehr, als sie sagt. Und dann, als Gillian zwölf war, ist ihre achtzehn Monate alte Schwester tödlich verunglückt. Sie ist zu Hause die Treppe hinuntergefallen und auf dem Steinboden aufgeschlagen. Kommt das jemandem bekannt vor?«
Harry sah, wie Alice nach hinten griff und die Hand ihres Mannes umklammerte. Keiner von beiden schien ein Wort hervorbringen zu können.
»Das ist beängstigend«, meinte Harry und sah abermals Rushton an. »Aber nennt man so etwas nicht Indizienbeweise?«
»Ihr Stiefvater hat das Kind gefunden, aber Gillian war auch im Haus«, fuhr Evi fort, ehe Rushton antworten konnte. »Sie müsste das Blut gesehen, müsste den Mann, den sie gehasst hat, vor Schmerz brüllen gehört haben. Das könnte einem psychisch geschädigten Teenager ein Gefühl großer Macht geben.«
»Trotzdem ist das reine Spekulation, Evi«, beharrte Harry.
»Genau das habe ich an dieser Stelle auch gesagt«, bemerkte Rushton und nickte.
»Gillians Mann hat sie betrogen«, wandte Evi ein. »Ich glaube, sie hat Hayley getötet, um ihn zu bestrafen, so wie sie ihren Stiefvater bestraft hat, indem sie seine Tochter getötet hat. Sie tötet, weil ihr das das Gefühl gibt, Macht zu haben. Gillian und ihre Mutter
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