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Blutheide

Blutheide

Titel: Blutheide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K.Hanke und C. Kröger
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Dessen war er sich vorhin durchaus bewusst gewesen. Jetzt stand er mitten in der Altstadt an der Ecke eines kleinen Ladens, der allerlei getöpferten Schnickschnack, den keiner brauchte, verkaufte, und schaute sich scheinbar die Auslage durch das schlecht geputzte Schaufenster an, während er auf sie wartete: Sein letztes Opfer, über das er jetzt, getrieben durch sich selbst, die Recherche zur Vollendung seiner Kunst-Enzyklopädie angehen musste.

    Sein Herz klopfte so stark unter der leichten Windjacke, dass er meinte, gleich würde es aus seinem Körper herausspringen, gegen die Schaufensterscheibe prallen und sie klirrend zerbersten lassen. Sicherheitshalber ging er einen Schritt zurück und nahm Abstand von der Scheibe. Gerade eben so viel, dass er nach wie vor als später Schaufensterbummler wahrgenommen werden konnte. Er war aufgeregt, wie zu früheren Dezemberzeiten, als er noch an den Weihnachtsmann geglaubt hatte. Aber immerhin ging es hier um die ersten konkreten Vorbereitungen für sein Meisterstück! Er schloss die Augen, atmete dreimal tief durch und befahl sich selbst, sich zu beruhigen. Er konnte sich keinen noch so winzigen Patzer erlauben. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er sich einem Gesicht gegenüber, dessen Betrachtung er noch nie lohnenswert gefunden hatte. Es stellte nichts dar und heute war es noch grauer als sonst. Er runzelte die Stirn. Sein Spiegelbild, überzogen von Schlieren, die es leicht verzerrten, tat es ihm gleich. Schnell schaute er weg und konzentrierte sich auf das, was da hoffentlich gleich kommen würde.

    Er hatte sich wieder in der Gewalt und fühlte sich nun auf seinem Beobachtungsposten wie eine urbanisierte Raubkatze auf der Pirsch. Allerdings mochte er generell keine Tiere. Er hatte sie früher zu sehr bewundert, und das war ihm noch immer zuwider: Einem Geschöpf Bewunderung zollen – bah! Bewunderung hieß, Angst haben. Kuschen. Heutzutage hatte er seinen Weg, sein Auskommen mit den Tieren gefunden, seine Angst überwunden, indem er sich selbst zum Tier gemacht hatte und noch darüber hinaus. Es war gar nicht so schwer gewesen. Er hatte sie einfach genau studiert. Und dann getötet. Inzwischen konnte er sein, was er wollte. Jegliches Tier in Menschengestalt konnte er leben, seinen menschlichen Verstand mit dem Instinkt des Tieres, in dessen Rolle er schlüpfte, verknüpfen und sich über alles in der Welt erheben. Mal war er eine Schlange, oft der schlaue Fuchs oder das anpassungsfähige Chamäleon und in Situationen wie dieser eine Raubkatze. Tiere folgten ihrem Instinkt. Sie kannten keine Hemmungen, sie kannten nur ihren Trieb, der hieß: Zum Überleben rauben oder sterben, töten oder getötet werden. Dabei waren sie nicht von ihrem Weg abzubringen. So wie er, was ihm auch den Umgang mit Menschen enorm erleichterte. Menschen negierten ihren Instinkt. Sie lernten es von klein auf und ließen sich deswegen von einem wie ihm auf einfachste Weise manipulieren, meist ohne es überhaupt zu bemerken. Er tat dies jeden Tag. Nicht erst, seit er seine Enzyklopädie in Angriff genommen hatte.

    Die Erinnerung schoss ihm geradewegs in den Kopf: Er war noch ein Junge gewesen. Seinerzeit, als er herausgefunden hatte, wie er mit dem Phänomen des tierischen Lebens umgehen musste, um es zu verinnerlichen und zu beherrschen im doppelt gemeinten Sinne. Damals hatte seine Mutter ihn ins Bett gesteckt. Es war helllichter Tag gewesen, doch er hatte ein paarmal zu oft gehustet. So hatte sie ihm einen Holunderblütentee mit Honig in den Rachen gezwungen, einen Schal viel zu fest um seinen Hals geschnürt, die schwere Daunendecke und das Kissen aufgeschüttelt und ihn mitsamt eines feuchten Kusses auf seine unwillige Stirn in die Laken gedrückt. Bevor sie sein Zimmer verlassen hatte, hatte sie die Vorhänge zugezogen und ihm aufgetragen, zu schlafen. Natürlich hatte er es nicht getan. Er hatte die Augen aufgerissen und sich gezwungen, dem Schlafbefehl zu widerstehen. Er hatte seinen Blick im Zimmer schweifen lassen und den Lichtstrahl, der messerscharf und dünn wie eine Papierseite aus dem Spalt der Gardinen durch die Fenster drang, verfolgt. Er hatte angefangen, die feinen Staubflocken, die den Strahl umwirbelten, von oben nach unten zu zählen, wurde dann jedoch gestört. Ameisen. Überall Ameisen. In Reih und Glied, wie auf parallele Ketten geschnürt, kamen sie unter dem Schrank hervor und sammelten aus seinem Dreck ihre überlebensnotwendigen Vorräte zusammen. Der Strahl

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