Blutherz - Wallner, M: Blutherz
diesen Ort.« John näherte den Besen der hängenden Fledermaus.
Sam berührte seinen Arm. »Lass mich. Ich mach das.« Sie trat unter den Balken. »Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist in Ordnung. Flieg weg.« Sam stellte sich vor, sie spräche mit Taddeusz. Er sollte sich keine Sorgen machen; sie würde nicht noch einmal versuchen, den Eltern ihr Geheimnis zu verraten. »Es ist alles in Ordnung.« War es wirklich ihr verwandelter Liebhaber, der dort hing, so würde er sie verstehen. Und wenn es bloß eine verirrte Fledermaus war, schadete es auch nichts. Als habe er sie genau verstanden, erglühten die stecknadelkleinen Augen. Im nächsten Moment breitete er seine Flügel aus, ließ sich fallen, flatterte über Samanthas Kopf, drehte eine Runde im Wohnzimmer und war in die Nacht entschwunden. Zu dritt schauten sie zur Tür. Eisiger Nebel hatte sich draußen gebildet, in Schwaden drang er in die Diele. Rasch löschte John die Außenlichter und schloss die Tür. Zugleich gingen die Lampen im Wohnzimmer wieder an.
»Was für ein Schreck in der Abendstunde!«, rief Sam, aber der coole Ton gelang ihr nicht. »Wahrscheinlich war dem Biest einfach kalt und es wollte sich aufwärmen.«
Louise konnte das Erlebte nicht so schnell abschütteln. »Ich glaube, ich muss ins Bett«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Das ist das Beste.« John legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich bringe dir deine Medizin.«
»Danke.« Innig sahen sie einander an.
Sam lag wach; wer hätte in ihrer Situation auch ein Auge zugetan? Hier ist nicht London, dachte sie, wo ständig unglaubliche Dinge passieren. Sie lag in ihrem Kinderbett in Lower Liargo, dem langweiligsten, unscheinbarsten Ort im Vereinigten Königreich. Sollte es möglich sein, dass ihr der Spuk bis hierher
gefolgt war? Hatte sie wirklich mit einer Fledermaus gesprochen, als sei diese ein verwandelter Vampir? Und was hatte das ungewöhnliche Verhalten ihrer Mutter zu bedeuten? Als Sam weiterhin nicht einschlafen konnte, ging sie hinunter, um ein Glas Milch zu trinken. John saß im Lichtkegel der farbigen Lampe und las. Sie nahm an, es wäre die Bibel, doch als er sich aufrichtete, erkannte sie ein anderes Buch in seiner Hand.
»Kannst du auch nicht schlafen?« Seine Augen waren rot gerändert, das blassgraue Haar zerzaust.
»Was liest du da?« Sie wollte nicht über die Vorfälle des Abends sprechen, wollte sich zu ihm setzen, in die Nähe ihres sanftmütigen Vaters.
»Ein Geschichtsbuch.« Er legte den Finger auf die Zeile. »Aus der Geschichte zu lernen, gibt mir die Ruhe, über die Ereignisse der Gegenwart gelassener nachzudenken.«
»Welche Geschichte ist das?«
Er zeigte ihr den Titel. Ancient Scottish History.
»Die Schotten? Wieso interessierst du dich für die?«
»Es sind unsere Nachbarn. Außerdem leben wir selbst auf uraltem schottischen Boden.«
Also doch, dachte Samantha. Genau wie Richard und Mr Lockool kannte ihr Vater die Zusammenhänge um das sagenumwobene Schottland der Urzeit.
»Wir wissen wenig über die schottische Urbevölkerung«, fuhr er fort. »Aus welchem Erdteil sie kamen oder warum sie die Insel besiedelt haben, ist weitgehend unbekannt. Nicht einmal der Name Pikten stammt von ihnen selbst.«
»Woher sonst?« Sam sank in den Lehnstuhl ihm gegenüber.
»Die Römer bezeichneten sie als Picti, das bedeutet die Bemalten. Es hatte mit ihrer Sitte zu tun, sich mit blauer Farbe zu tätowieren. Wie sie selbst sich nannten, wissen wir nicht.«
»Wieso heißt die Bevölkerung dann heute die Schotten?«
»Jahrhunderte, nachdem die Pikten den Besatzungsheeren der Römer das Leben schwergemacht hatten, fielen die keltischen Skoten im Norden ein. Sie besiegten die Pikten, siedelten sich an und verschmolzen schließlich mit dem Urvolk. Etwa ab diesem Zeitpunkt wurde das ganze Volk Schotten genannt.« John legte das Buch beiseite. »Doch die Urbewohner sind immer noch unter uns.«
»Woher weißt du das?«
»Es gibt einen Kult in der Gegend. Er hat nicht viele Mitglieder, aber er existiert. Sie nennen sich Die Jünger Fortrius . Sie halten rituelle Messen ab, heidnische Messen natürlich. Man nimmt an, FORTRIU sei eine alte piktische Provinz gewesen. Vielleicht war es aber auch der Name des ersten piktischen Königs.«
»Fortriu«, wiederholte Samantha. »Der Name klingt kein bisschen schottisch.«
»Der Ursprung der piktischen Sprache ist so geheimnisvoll wie das Volk selbst. Durch ihren Aufenthalt auf unserer Insel flossen
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