Blutherz - Wallner, M: Blutherz
einem Mal alles anheimelnd, liebenswürdig und schön. Sie sprang aus dem Bus, dessen Türen sich so hurtig schlossen, als wolle der Fahrer nicht länger als nötig in Lower Liargo halten. Sam warf die Reisetasche über die Schulter und lief los.
Wie jedes Jahr bot Mrs Hamer das Untergeschoss ihres Hauses als Ferienwohnung an; aber niemand kam, um hier Urlaub zu machen. Die Bronzestatue von Sir Beathelread, dem Gründer des Ortes, war zugeschissen von Tauben und Möwen, das Ziergebüsch rund um das Denkmal im Sommer eingegangen. Samantha bog in die aufgesprungene Straße ein, an deren Ende das Gotteshaus der anglikanischen Kirchengemeinde stand und dahinter ihr Geburtshaus. Jetzt muss das mit der Wiedersehensfreude aber aufhören, dachte sie, hunderttausend
Mal bin ich auf dieses Haus zugelaufen, fand es spießig, billig und viel zu klein. Wieso hüpft mir plötzlich das Herz, die alte Bruchbude zu sehen? Warum finde ich das Geißblatt an der Backsteinmauer so malerisch und die überlackierte blaue Tür einladend wie nie? Weil ich in der großen Stadt fremder geblieben bin, als ich es mir eingestand. Samantha ließ ihre Tasche fallen. Weil meine verwirrte Seele nichts sehnlicher braucht als etwas Heimeligkeit, an diesem Ort, wo niemand mich erschreckt und nichts mich überraschen kann. Sie hatte die Hand nach dem Klopfer kaum ausgestreckt, als die Tür aufging; vor ihr stand Vikar John Halbrook, ihr Vater. Der Gemeindepriester trug eine Gartenschürze; vorsorglich legte er die Rosenschere beiseite, bevor er Sam umarmte.
»Herbstarbeit?« Sie drückte den zarten Mann an sich.
»Ich schneide sie dieses Jahr stark zurück«, sagte er, über ihre Schulter gebeugt. »Der Sommer war kühl, sie konnten nicht voll austreiben.«
Die Hingabe, mit der John Louises Rosenbeet pflegte, hatte Sam früher genervt; jetzt gefiel ihr seine Liebe zu den Blumen.
»Hallo.« Sie sah ihm in die wässrig blauen Augen. Sein Blick war so sanft, dass Sam sofort wieder das Gefühl überkam, man müsse auf den unscheinbaren Mann aufpassen. Kaum zu glauben, was er in seiner Gemeinde durchgesetzt hatte. John war leise, zurückhaltend und besaß doch eine Kraft, die andere Menschen überzeugte.
»Ist sie oben?«, fragte Samantha.
»Heute nicht«, antwortete er frohgemut. »Sie kocht.«
»Mama?« Sam trat in die dämmerige Diele und nahm zu Recht an, dass der Vater die Tasche hinter ihr hertrug. Sie guckte in die Küche. »Pfannkuchen?«
»Mit Salbei und Walnüssen«, antwortete die Mutter und
umarmte ihre Tochter. Louise Halbrook trug nicht den gewohnten abgeschabten Morgenmantel; Samanthas Ankunft war ihr wichtig genug gewesen, in das weiche Wollkleid zu schlüpfen. In ihrer Kindheit hatte Sam nicht verstanden, warum ihre Mutter sich weigerte, traditionelle englische Gerichte zu kochen: das mächtige Frühstück mit Bohnen, Nieren und Speck, abends deftige Brotpuddings, Schmorfleisch, Rippchen mit Chips. Für Louise war die Gesundheit das Höchste, darum kamen bei ihr frische Früchte, Kräuter und Gemüse auf den Tisch; allerdings nur, wenn sie sich kräftig genug zum Kochen fühlte. Heute war so ein Tag. Sam musterte ihre Mutter aufmerksam. Manchmal war sie so von Schwäche und Lebensekel beherrscht gewesen, dass ihr hübsches Gesicht sich gleichsam nach innen stülpte; nichts als die spitze Nase und zwei ängstliche Augen nahm man dann wahr. Heute lag eine seltene Weichheit auf ihren Zügen, ein ungewohnter Optimismus.
»Setz dich, ist gleich fertig.« Mit der Kelle hob Louise den Pfannkuchen heraus, bestrich ihn mit der gehackten Füllung und rollte ihn zusammen.
Sam rutschte auf die alte Bank, auf der sie schon als Säugling geschlafen hatte.
»Du bleibst das ganze Wochenende?« Der Vater setzte sich neben sie.
»Sonntagabend geht mein Flug zurück.« Sie spürte, wie hungrig sie war. In den letzten Tagen, mit all den Ängsten und Schrecknissen, hatte sie kaum etwas hinunterbekommen. Wie sollte sie beginnen? Welches Ereignis musste sie mit den Eltern vordringlich besprechen? Die Schwangerschaft oder die Gefahr, in der sie sich offensichtlich befand? Eines hatte Samantha sich geschworen: Kein Wort über Vampire. Als sie nun am Esstisch ihres Elternhauses saß, kam ihr die ganze Angelegenheit
so unwirklich vor, dass es ihr schwerfiel, daran zu glauben.
Sie aßen die pikanten Pfannkuchen, tranken von Johns Erdbeerwein, hinterher stellte er Kekse auf den Tisch. Auch wenn es fast nur Samantha war, die erzählte, erfuhr sie doch, was
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