Blutherz - Wallner, M: Blutherz
doch nicht jede Fledermaus hat einen guten Orientierungssinn. Richard Kóranyi, der untypischste aller Vampire, besaß keinen. Außerdem verfügte er über wenig Flugerfahrung. Der Zelle war er glücklich entronnen – es bedeutete keine Schwierigkeit, zwischen Gitterstäben hindurchzufliegen – gleich darauf stieß er aber bereits auf ein Hindernis. Die Tür zum Gang war aus Eisen; außer einem Guckloch in Augenhöhe gab es kein Durchkommen. Dickie flatterte dreimal an die viereckige Öffnung heran, doch er wagte nicht, sich hindurchzustürzen. Meine Schwingen sind zu breit, dachte er, ich werde dagegenprallen und mir etwas brechen. Sinnlos flatterte er durch den Raum, bis seine Kräfte nachließen. Warum landest du nicht auf dem Absatz des Gucklochs, überlegte er, klappst die Flügel zusammen und kriechst hindurch. Auch das stellte sich als undurchführbar heraus, da Fledermäuse nicht wie Vögel landen, sondern sich mit ihren Klauen an Decken oder Vorsprüngen festkrallen und hängen bleiben. An der glatten Eisentür gab es nichts, um sich festzukrallen. Egal, was mit mir passiert, sagte sich der flügelschlagende Vampir, ich muss alles unternehmen, Sam aus ihrer tödlichen Not zu befreien. Alles! Er setzte zum Sturzflug an, segelte zu dem kleinen Loch und legte im letzten Moment die Flügel an. Mit den Krallen versuchte er, den oberen Rand zu umklammern, doch er war zu schnell, rutschte ab, purzelte kopfüber in die Öffnung, die Flügel sperrten sich und wurden schmerzhaft gequetscht. Richard fiepte, aber im nächsten Moment war er durch! Es gelang ihm allerdings nicht, die Schwingen sofort
wieder auszubreiten, ungebremst stürzte er ab und landete zerschunden auf dem Steinboden.
Wer glaubt, Fliegen macht Spaß, hat keine Ahnung, dachte Richard. Mühsam sortierte er die Flügel und die dünnen Beine, streckte sich und wollte weiter. Doch da Fledermäuse nicht fliegen, sondern nur gleiten, wurde ein klägliches Flügelschlagen daraus, das ihn nicht in die Höhe brachte. Ich muss einen erhöhten Punkt erreichen! Auf seinen kurzen Beinen machte er sich auf den Weg. Wie ein gestrandeter Segelflieger schleppte er die lappigen Schwingen mit sich, erreichte eine Stufe und zog sich daran hoch. Er erklomm eine zweite Stufe und von dort eine Mauernische. Das sollte genügen, dachte er, ging in Flugposition und sprang. Er flatterte wild, zu wild vielleicht, denn er kam wohl ins Fliegen, prallte aber im nächsten Moment gegen die gegenüberliegende Wand. Ich bin eine Schande für das ganze Fledermausvolk! Er spreizte die großen Ohren und stieß einen durchdringenden Laut aus. Mithilfe des Echos, das der Ultraschall von den Wänden zurückwarf, gelang es Richard, die Orientierung wiederzuerlangen. Er segelte durch die nächste Öffnung. Sie mündete in den runden Saal, von dem die vielen Durchgänge abzweigten. Zu viele. Nach wenigen Minuten hatte sich Richard rettungslos verirrt. Planlos flatterte er durch das unterirdische Labyrinth. Du hast immer gesagt, du bist ein Versager. Wie fühlt sich das an, so sehr recht zu behalten? Vor Verzweiflung fiepend, suchte er einen Durchschlupf, der ihn zur Treppe bringen und hinauf zu den beiden Alten führen würde. Wenn ich noch lange so weitermache, habe ich keine Kraft mehr, Fred den Schlüssel zu klauen! Richard steuerte einen steinernen Vorsprung an, drehte sich im Flug um und klammerte sich an die Decke. Er klappte die Flügel zusammen und hing schwankend da. Wieso schwanke ich?, überlegte er. Irgendwo in der Nähe streicht
Luft in die Höhe, hier muss ein Durchzug sein. Dickie breitete die Schwingen aus, ließ sich fallen und trachtete, auf der steigenden Luft zu treiben. Tatsächlich entdeckte er gleich darauf die Treppe, segelte an ihr empor, flatterte um zwei Ecken und erreichte den Korridor, der ins Wohnzimmer von Fred und Myrtle-Mae mündete.
Die alten Leute saßen vor dem Kamin. Doch wie sehr hatten sie sich verändert! Fred trug einen schwarzen Gehrock, schwarze Weste und Hose, auf seinem Kopf saß ein Zylinder. Myrtle-Mae hatte ein altmodisches schwarzes Kostüm angezogen, einen Hut aufgesetzt und einen Schleier vor dem Gesicht.
»Ich hab’s dir gesagt: Wir hätten uns nicht so früh umzuziehen brauchen«, quengelte der alte Mann. »Bei dem Wetter dauert der Flug von London länger.«
»Mir ist es lieber so. Sonst ziepelst du noch an den Hosenträgern rum, wenn es unten schon klingelt.« Sie sah ihn von der Seite an. »Außerdem steht dir die Aufmachung so
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