Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Beckwith’ Stimme aus dem Flur. Sie klang so albern und zugleich bezaubernd wie die eines kleinen Mädchens, das sich freute, weil sein Lieblingsonkel mit ihm sprach.
»Ich mich auch, total. Das wäre toll. Sieben Uhr, im selben Raum wie letztes Mal?«
Ihr ganzes Leben schien aus Lügen, Taxifahrten und Hotelzimmern, in denen sie die widerwärtigen Avancen alter Männer über sich ergehen lassen musste, zu bestehen. Obwohl das viele Geld, das sie dafür bekam, es sicher leichter machte, fragte ich mich, wie sie diesen Lebensstil ertrug. Die Tatsache, dass sie mehrere tausend Pfund für ihre Dienstleistung verlangen konnte, machte deutlich, wie korrupt die City war. Denn verglichen mit den Boni ihrer Kunden waren ihre Honorare nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ich hörte, wie sie auf Wiederhören sagte, doch kaum hatte sie aufgelegt, klingelte ihr Telefon erneut. Sie fluchte laut, bevor sie abermals in zuckersüßem Ton mit einem Kunden sprach. Das gab mir die Gelegenheit, mich in den angrenzenden Zimmern umzusehen. Ich öffnete die Tür zu einem Raum mit warmen Terrakottawänden und einem mit Dutzenden von Kissen übersäten Bett. Nirgends fand sich auch nur eine Spur von Kitsch, die einzigen Details, die Poppys Profession verrieten, waren der riesengroße Spiegel an der Decke und die Sammlung japanischer Aktzeichnungen an der Wand. Noch immer schmierte Beckwith ihrem Kunden Honig um den Bart, deshalb öffnete ich vorsichtig die nächste Tür und riss verblüfft die Augen auf, als ich dahinter nur ein Einzelbett mit einer Patchworkdecke, einen hellen Teppich und ein Kruzifix an einer der weißen Wände sah. Es gelang mir gerade noch, die Tür wieder zu schließen und zur Couch zurückzukehren, bevor Poppy wiederkam.
Ihre Miene wirkte etwas weicher als zuvor.
»Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie eben so angefahren habe«, sagte sie. »Normalerweise lasse ich hier keinen Fremden rein.«
»Das kann ich verstehen. Aber wenn Sie der Polizei alles erzählen würden, was Sie wissen, wären Sie deutlich sicherer als so.«
Ihre Miene machte deutlich, dass sie jede Menge zu erzählen hätte, aber auf die Polizei nicht gerade gut zu sprechen war. Das konnte ich gut nachvollziehen. Die meisten Polizisten hatten eine ganze Liste wenig schmeichelhafter Spitznamen für Sexarbeiterinnen, die, um ihre Arbeit zu ertragen, Drogen nahmen, und wahrscheinlich hatte sie inzwischen jeden dieser Spitznamen schon einmal irgendwann gehört. Trotzdem bekam ihre harte Schale einen Riss, als sie mit Flüsterstimme sprach.
»Als ich Leo zum letzten Mal gesehen habe, war er irgendwie verändert. Er hat seine Arbeit kaum jemals erwähnt, aber plötzlich meinte er, es gäbe Probleme in der Bank und er könnte nur hoffen, dass ihnen die ganze Sache nicht um die Ohren fliegt.«
»Hat er auch erzählt, was das für Probleme waren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er meinte nur, er hätte Angst. Mehr hat er nicht gesagt.«
Ein Netz von feinen Fältchen dehnte sich in ihren Augenwinkeln aus, und unweigerlich tat sie mir leid. In meinem Job war es egal, wie schnell man alterte, aber Poppy müsste schon in Bälde einen Teil von ihrem Geld in Botox investieren, damit ihre Kunden auch in Zukunft glücklich mit ihr waren. Ich ging zur Wohnungstür und drehte mich noch einmal zu ihr um. Sie sah viel zu zerbrechlich aus, um irgendeinem Menschen weh zu tun, und ich kam zu dem Schluss, dass meine Fahrt quer durch die Stadt völlig umsonst gewesen war.
»Passen Sie gut auf sich auf«, bat ich, und sie berührte flüchtig meinen Arm.
»Dafür habe ich meine Leute. Gucken lieber Sie, dass Ihnen nichts passiert.«
Abrupt schob sie wieder die Kette vor die Tür, und mein Unbehagen wuchs. Poppy hatte zwei der Opfer gut gekannt, aber anscheinend trotzdem keine Angst. Entweder war ihr also nicht klar, dass diese Nähe unter Umständen gefährlich war, oder sie wusste ganz genau, was hier gespielt wurde und dass sie selber auf der sicheren Seite war. Ein ums andere Mal ging ich die Fakten durch, doch sie ergaben einfach kein genaues Bild.
Auf dem Weg durchs Treppenhaus dachte ich an den Gegensatz zwischen den beiden Schlafzimmern, in die ich eben heimlich eingedrungen war. Der kleinere, spärlich möblierte Raum erinnerte sie sicher an die Rehazentren, in die ihre Eltern sie verfrachtet hatten – er war leer und ruhig genug, dass man darin zu Besinnung kam. Oder vielleicht war er auch ein Souvenir an die katholische Erziehung, die ihr einst
Weitere Kostenlose Bücher