Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
wichtig, dass Sie keine unnötigen Risiken eingehen. Wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit noch den Finanzdistrikt aufsuchen müssen, fahren Sie bitte nicht allein dorthin.«
Am liebsten hätte ich gesagt, sie solle sich den Atem sparen, weil man in der City längst total hysterisch war. Die Boulevardblätter versuchten, einander mit reißerischen Schlagzeilen zu überbieten, und inzwischen wurde unser Mörder schon mit Jack the Ripper gleichgesetzt, der nie gefunden worden war. Sie druckten sogar Karten von der Gegend ab, weil es von Whitechapel, dem Revier des Rippers, schließlich weniger als einen Kilometer bis zum Jagdgebiet des Angel Killers war. Die Zeitungen molken den generellen Bankenhass, der seit Bekanntwerden der jüngsten Unterschlagung in Milliardenhöhe noch gewachsen war, und vielen Journalisten schien der Tod der Banker vollkommen egal zu sein – denn in den Artikeln deuteten sie an, dass dies vielleicht die wohlverdiente Strafe für ihr jahrelanges Fehlverhalten war. Ich schaltete das Radio aus, als die Wettervorhersage mit der Prophezeiung eines neuerlichen Hochs mit Orkanen und Jahrhundertstürmen schloss.
Als ich aus dem Haus ging, hielt ich kurz neben dem Bus von meinem Bruder, um durch einen Spalt zwischen den Vorhängen zu spähen. Ich konnte niemanden in dem Gefährt entdecken, und als ich die Tür aufschob, wurde mir deutlich, dass auch nichts gestohlen worden war. Anscheinend hatte Will vergessen abzusperren, denn die Tür wies keine Einbruchsspuren auf, und der Schlafsack, der zusammengerollt auf seiner Pritsche lag, sah unverändert aus. Vielleicht hatte ich mir ja nur eingebildet, jemanden in seinem Bus zu sehen – vielleicht hatte die Erschöpfung oder ganz einfach das abendliche Dämmerlicht mir einen Streich gespielt.
Der Asphalt des Bürgersteigs brannte durch die Sohlen meiner Sandalen, als ich weiterlief. Vor dem Tower nahm ein Beefeater eine der samstäglichen Besuchergruppen in Empfang. In seinem dicken scharlachroten Frack musste er vor Hitze regelrecht vergehen. Denn selbst in meinem dünnen Sommerkleid machte mir die Wärme allmählich zu schaffen, und vor der St. Paul’s Cathedral setzte ich mich kurz auf eine Bank. Selbstbewusst stolzierte eine Schar von Tauben quer über den Platz, und die makellose blütenweiße Kirche erstrahlte im hellen Sonnenlicht. Ich schirmte meine Augen mit den Händen ab, um die Silhouette zu betrachten. Sie sah einfach unverwüstlich aus, als hielte sie problemlos Bomben, Erdbeben und der alljährlichen Entweihung durch Millionen von Besuchern stand. Während ich noch die mächtige Architektur bewunderte, ging mir urplötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Kirchen waren die denkbar besten Plätze, um den Engeln möglichst nah zu sein. Ich war mir sicherer als je zuvor, dass die Überfälle nicht von einem Mann allein begangen worden waren. Ich stellte mir zwei Männer vor, die zusammen irgendwo auf einer harten Bank in einer Kirche saßen und sich über die Gemälde an den Wänden unterhielten. Weil schließlich das Bild, das Nicole Morgans Angreifer zurückgelassen hatte, die Kopie von einem Buntglasfenster war.
Ich sah eine Gruppe von Touristen, die sich auf die Stufen vor der Kathedrale setzten, um dort Postkarten an die Daheimgebliebenen zu schreiben, und stand seufzend wieder auf. Ich musste Burns erzählen, dass ich eine Postkarte mit einem Engel mit zerstörten Augen ins Büro geschickt bekommen hatte, aber wenn ich es ihm sagte, könnte ich nicht mehr so tun, als wäre nichts geschehen.
Es war bereits nach elf, bis ich die Millennium Bridge erreichte. Vor dem Fenster eines Restaurants machte ich halt und überprüfte kurz mein Spiegelbild. Zum Föhnen hatte meine Zeit nicht mehr gereicht, aber wenigstens passte mein dunkelrotes Kleid zu meinen Schuhen, und auch mein Make-up sah noch passabel aus. Zahlreiche Familien bevölkerten das Flussufer und labten sich am Kuchen und am selbstgebackenen Brot der italienischen Bistros. Meine Mutter saß an einem Tisch vor einem der Cafés und sah mich durch ihre dunkle Sonnenbrille hindurch reglos an. Sie lächelte auch nicht, als ich mich zu ihr herunterbeugte und sie auf die Wange küsste, sondern fragte mich in strengem Ton: »Warum hast du nicht Bescheid gegeben, dass es bei dir später werden wird?«
Am liebsten hätte ich erklärt, sie hätte sich die kurze Wartezeit doch mühelos mit der Beobachtung der anderen Leute oder der Lektüre ihrer Times vertreiben können, doch das
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