Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Grundausbildung, dass der direkte Kontakt zu Stalkern zu vermeiden war. Denn sie sehnten sich derart verzweifelt nach der Aufmerksamkeit der Person, die sie verfolgten, dass sie selbst die wüstesten Beschimpfungen als Zeichen dafür sahen, dass man sie zur Kenntnis nahm. Doch mein praktischer Verstand hatte sich kurzfristig in Wohlgefallen aufgelöst.
Es machte mich so wütend, dass mich dieser Kerl verfolgte, dass ich direkt auf ihn zumarschierte, obwohl Hari mir geraten hatte, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Als er mich erblickte, stand er auf, und ich brauchte meine gesamte Selbstbeherrschung, um nicht laut zu schreien.
»Sie sollten nicht hier sein, Darren. Das ist Ihnen klar, nicht wahr?«
Er runzelte die Stirn und schüttelte vehement den Kopf. »Ich kann Sie nicht allein lassen. Ihnen könnte alles Mögliche passieren.«
Sein durchdringender Blick brachte mich vollkommen aus dem Gleichgewicht. Ich hatte diesen starren, besessenen Gesichtsausdruck schon öfter bei Patienten und Patientinnen erlebt, nur hatte er dann immer jemand anderem gegolten. Darren hätte jede Aufgabe, die ich ihm übertragen hätte, umgehend erfüllt. Wenn ich ihn gebeten hätte, von der Shardzu springen, hätte er sich ohne Fallschirm aus 300 Metern Höhe auf den Bürgersteig gestützt. Aber seine Emotionen waren derart außer Kontrolle, dass seine Ergebenheit auch urplötzlich in blanken Hass umschlagen könnte. Deshalb wurde ich ihn besser möglichst auf der Stelle wieder los.
»Hören Sie, Darren. Sie müssen Montag früh um neun noch mal zu Dr. Chadha in die Klinik gehen. Doch jetzt müssen Sie von hier verschwinden, wenn ich nicht die Polizei anrufen soll.«
Ich stemmte meine Hände in die Hüften wie ein wild gewordenes Fischweib, aber Darren schüttelte empört und ungläubig den Kopf, als brüllte ich etwas in einer Sprache, die er nicht verstand.
25
Der Schock ereilte mich, als ich in meine Wohnung kam. Darren war noch immer nicht verschwunden, als ich aus dem Fenster meines Schlafzimmers hinunter auf die Rasenfläche sah. Offenbar war ihm inzwischen klargeworden, dass ich ihn zurückgewiesen hatte, denn er sah unglaublich wütend aus, und mir dämmerte, dass es nicht gerade schlau gewesen war, mich mit einem Typen anzulegen, der schon einmal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden war. Aus irgendeinem Grund jedoch tat er mir leid. Er erinnerte mich irgendwie an meinen Bruder, nur dass er sich nirgendwo verstecken konnte, wenn er den Symptomen seiner Krankheit ausgeliefert war. Ich holte mir ein Glas Saft, und als ich noch mal aus dem Fenster sah, war Darren nicht mehr da.
Dass ich an diesem Nachmittag in eine Kirche ging, hatte nicht das mindeste mit Religiosität zu tun. Ich gab einfach meiner Neugier in Bezug auf Engel nach. Für gewöhnlich machte ich um Kirchen einen möglichst großen Bogen, weil sie mich daran erinnerten, wie ich als Kind in ein gestärktes Kleid und zum Stillsitzen gezwungen worden war, während das Brausen der Orgel meine Ohren klingeln ließ. Während meiner Kindheit hatte ich die Sonntage gehasst. Mein Vater hatte während der Gebete immer seinen Kopf in die Hände gelegt und sich bemüht, so reuevoll wie möglich auszusehen. Aber spätestens am Nachmittag war er wieder sternhagelvoll gewesen und hatte den nächsten Streit mit seiner Frau gesucht.
Ich hatte noch ein wenig Zeit, bis Lola am Trafalgar Square erscheinen würde, so trat ich kurzentschlossen durch die Tür von St. Martin-in-the-Fields. Der Geruch von Frömmigkeit, staubigen Gesangbüchern und Kerzenwachs war haargenau derselbe wie in der Kirche, in die mich meine Eltern jahrelang allsonntäglich gezwungen hatten. Aber wenigstens war dieses Gotteshaus von hellem Sonnenlicht durchflutet, das sich in den großen Buntglasfenstern vorn und hinten brach.
Eins der Fenster war mit einer Engelschar in leuchtenden Gewändern vollgestopft. Mit ihren Trommeln und Trompeten sahen sie wie eine himmlische Jazzband aus, und während ich sie fasziniert betrachtete, sprach mich plötzlich jemand von hinten an.
»Ganz schön beeindruckend, nicht wahr?« Der grauhaarige Mann sah mich mit einem netten Lächeln an. Dem zerschlissenen Kragen nach war er ein Priester, und ich überlegte, ob er vielleicht auf der Suche nach verlorenen Seelen war. »Interessieren Sie sich für Buntglas?«
»Eher für Engel«, antwortete ich.
»Inwiefern?«
»Ich würde gern verstehen, wofür sie stehen.«
»Ich glaube, dass sie einfach
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