Blutiges Gold
bin?«, fragte er, sie absichtlich missverstehend.
Sie wartete einfach.
»Ja«, gab er nach einer Minute des Schweigens zu. »Ich bin auch einer dieser Merkwürdigen. Nehme ich mal an.« Er zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich in einer Zeit und an einem Ort lebe, in der man ein Verständnis für Zahlen und die Denkmuster braucht, nach denen die Menschen leben. Die Tatsache, dass viele meiner beruflichen Entscheidungen – auch unter dem Wort Eingebung bekannt – nicht auf der Logik und Vernunft der westlichen Welt basieren, wird höflich ignoriert. Wenn man mich fragt, singe ich dasselbe Lied wie alle und rede über langfristige Trends und kurzfristige Gewinne und Marktanalysen nach der Fuzzy-Logik und all den beruhigenden Quatsch, der plausibel machen soll, warum ich reich bin und die anderen nicht.«
»Du arbeitest viel.«
»Das machen andere Leute auch.«
»Du bist intelligent.«
»Wie andere …«
»… Leute auch«, ergänzte sie seine Antwort. »Aber du siehst Dinge, die andere hart arbeitende und intelligente Leute nicht sehen, ist es das?«
»Wenn Sehen ein anderes Wort für Träumen ist und Träumen so viel wie instinktives Wissen – ja, dann sehe ich Dinge.«
»Den Teil deiner Biografie kannte ich bisher nicht«, murmelte sie.
»Ich habe auch noch niemandem davon erzählt, nur dir. Wie vielen Leuten hast du erzählt, dass du von Vorgängen träumst, die du dem Verstand nach unmöglich wissen kannst?«
Eine Weile war es so still, dass er hören konnte, wie der nächtliche Wind von den steilen Felsen herabpfiff und über das Land wehte wie ein Atemzug der Zeit.
»Dir«, flüsterte sie. »Sonst niemand. Mir fällt es sogar schwer, es mir selbst gegenüber einzugestehen.«
»Warum?«
Sie gab einen Laut von sich, der ein Lachen oder Aufschluchzen sein konnte. »Als ich ein Kind war, dachte ich, das sei der wahre Grund dafür, warum mich meine erste Mutter im Stich gelassen hat – weil ich anders war. Und dass meine Adoptivmutter gestorben ist, als sie es herausgefunden hat.«
»Hast du das geträumt? Hast du es dadurch erfahren?«
Sie schwieg einen Moment. »Nein. Ich träume nie von mir selbst. Nur von … Dingen. Altertümern. Und nicht von allen alten Zeiten oder Altertümern. Nur von ganz speziellen. Sehr speziellen.«
»Wie in Wales.«
»Ja«, sagte sie mit einer Stimme, die so leise war wie der Wind. »Wie in Wales.«
»Ist es der Ort oder der rituelle Gebrauch der Kultgegenstände, die mit ihm verbunden sind, der dich ruft?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob man das trennen kann.« Sie rieb sich mit den Händen über die Arme und wandte sich von ihm ab. »Ich will darüber wirklich nicht länger reden. Sobald ich herausgefunden hatte, dass die meisten Menschen nicht so empfinden wie ich, habe ich alles getan, um meine Empfindungen zu ignorieren.«
»Aber sie sind dadurch nicht verschwunden, nicht wahr?«, fragte Shane.
Ärgerlich wandte sie sich ihm zu. »Was willst du von mir?«
»Das Gefühl, dass ich mit meinen Empfindungen nicht allein bin. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, der einzige Merkwürdige unter der ganzen großen Menschheit zu sein.«
»Okay. Also gut. Ich bin eine merkwürdige Frau. Fühlst du dich jetzt besser?«
»Klar«, grinste er. »Statistisch betrachtet sind wir jetzt bereits eine Menge, keine Singularitäten mehr, für die man keine Gesetze definieren kann.«
Sie starrte ihn verblüfft an, dann lachte sie. »Das ist wohl deine Fuzzy-Logik, nicht wahr?«
»Es hilft mir.« Er zog sie dicht an sich heran, küsste sie mit Leidenschaft und sah hinab in ihr vom Mond erleuchtetes Gesicht. »Wie du auch. Warte hier.«
Risa war immer noch damit beschäftigt, seinem Kuss nachzuspüren und seinen verwirrenden Gedankengängen zu folgen, als sie bemerkte, dass er bereits dabei war, Virgil O’Connors Eingangstür zu öffnen.
»Du kannst doch nicht einfach …«, fing sie an.
Aber er hatte es bereits getan.
»… reingehen«, vollendete sie ihren Satz.
Die Hände immer noch in der Windjacke eingewickelt, tastete Shane an der Wand entlang, bis er einen Lichtschalter fand. Gegen die weiße Kraft des Mondlichts wirkte die Sechzig-Watt-Lampe in der Fassung, die an der Decke hing, wie ein runde gelbe Kerzenflamme. Es war genug, um ein Sofa mit einem Kissen und einer schäbigen Decke erkennen zu lassen sowie einen Stapel dicker Bücher, die aufgeschlagen auf einem alten Esstisch lagen. Dahinter befand
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